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Alphaville im Interview: „Wir mussten das so machen, um unsere Seele zu retten.“

Alphaville haben gerade „Afternoons In Utopia“ und „The Breathtaking Blue“ – ihr zweites bzw. drittes Album – in komplett remasterter Form (wieder-)veröffentlicht. In hörbar klarerem Sound als je zuvor und mit viel Bonusmaterial (Remixe, B-Seiten, Demos … und eine DVD, auf der die Kurzfilme, die zu allen Songs von „The Breathtaking Blue“ gedreht wurden, endlich in angemessener Qualität zu sehen sind). Die Wiederentdeckung lohnt sich und war ein guter Anlass mit Marian Gold und Bernhard Lloyd zu sprechen.

Das Gespräch fand natürlich pandemiegerecht statt. Also über Zoom. Der Vorteil: So sieht man auch mal die heimischen Gemälde (Marian) oder das Equipment (Bernhard).

depechemode.de: Ich fange gleich mal mit einem Zitat an. Muss so um 1988 herum gewesen sein. „Wir revolutionieren mit unserer Musik sicher nicht die Pop-Welt, aber das ist auch gar nicht unser Ansinnen. Wir lassen uns nur nicht auf irgendwelche Klischees festlegen. Und wir wollen unserem Publikum mit unserer Musik Anregungen geben, ohne dabei gleich direkt eine Message zu verbreiten!“

Marian Gold: Das hat Bernd gesagt!

Bernhard Lloyd: Glaube ich nicht!

M: Das klingt total nach dir, Alter! [lacht]

B: Na gut. Kann sein, dass ich mir das so ausgedacht habe, ja.

M: Ich will auch gar nicht sagen, dass ich damit nicht übereinstimme.

B: ’88 passt natürlich zu „The Breathtaking Blue“.

Es kann ’88 gewesen sein, kann aber auch etwas früher gewesen sein. Ich habe das dem Klappentext zu eurer DDR-Schallplattenveröffentlichung entnommen, die ich gerade mal aus dem Plattenschrank gezogen habe.

B: Dann ist das natürlich durch den ideologischen Filter der DDR-Kultur gelaufen. Insofern, ob wir das so gesagt haben …

M: Aber so vom Ansatz her kannst du doch damit leben, oder?

B: Jaja. Gerade in Bezug auf „The Breathtaking Blue“ könnte ich damit leben.

Das ist auch eine lustige Tracklist. Da wurde aus den ersten beiden Alben so eine Art Best Of gebastelt. Wurde ja in der DDR häufiger so gemacht. Wart ihr da überhaupt involviert?

B: Wir waren schon involviert. Die wollten unbedingt ein Stück vom ersten Album nicht da drauf haben und eines vom zweiten Album auch nicht. Da waren zwei aus DDR-Sicht politisch nicht korrekte Songs auf unseren Alben, „Summer In Berlin“ und „Jerusalem“. Aber da es eh eine Compilation war, haben wir uns auch nicht darüber beschwert, dass sie die Auswahl getroffen haben.

Nun zum Thema: Einen „Afternoon In Utopia“ – wie würdet ihr euch den heute, ein paar Jahre später, vorstellen?

M: Man muss einfach verstehen, was damals damit gemeint war. Wir waren im Prinzip von unserem eigenen Erfolg überrollt worden. Wir haben angefangen, in so einem kleinen Bedroomstudio an Musik zu basteln, ohne jetzt ausgezeichnete Instrumentalisten zu sein. Wir waren mehr so Tippbrüder, haben Sachen einprogrammiert. Wir konnten eigentlich nur Musik machen, weil es diese Geräte auf einmal gab. Vorher hätte sich keiner von uns vorstellen können, Musiker zu werden. Ein paar Monate später waren wir auf einmal Nummer eins in Deutschland und allen möglichen europäischen Staaten, so dass wir erst einmal zwei Jahre herumgereicht wurden. Wir haben fast jedes europäische Fernsehstudio von innen gesehen. Das war schon ein ganz schöner Hammer.

Wir sind ja irgendwie auch Erzähler, die Songs sind alle Geschichten.

Marian Gold

Als wir dann angefangen haben, das zweite Album zu machen, wollten wir wieder zurück in die Existenz, die wir vorher hatten. In dieses Wolkenkuckucksheim oder, wie Bernd immer sagt, diesen Elfenbeinturm, in dem wir uns frei unsere Sachen ausdenken können. Wir sind ja irgendwie auch Erzähler, die Songs sind alle Geschichten, eigentlich auf allen Alben. Das sind nicht nur Worthülsen, wir sind Märchenerzähler im besten Sinne des Wortes. Dieses zweite Album war für uns die Rückkehr in die Gefilde, die wir kannten. Gleichzeitig war uns klar, dass diese Rückkehr wahrscheinlich so nicht funktionieren würde. Deswegen haben wir es als Utopia bezeichnet. Eine Rückkehr und gleichzeitig ein Abschied.

Das war auch eigentlich noch ein Echo auf die Zeit vorher. Im Prinzip ist „Afternoon In Utopia“ unser erstes Album und „Forever Young“ das zweite. Es gab Stücke, die bereits vor dem ersten Album entstanden sind. „Carol Of Masters“ und „Lassie Come Home“ haben wir geschrieben, bevor wir die meisten Songs für „Forever Young“ komponiert haben.

Dass ihr den Weg vom ersten zum zweiten Album so gegangen seid, war ja schon mutig. Würdet ihr das denn rückblickend wieder so machen?

M: Das war damals eine Überlebensfrage. Es war unheimlich wichtig, dass wir das gemacht haben. Sonst hätten wir diesen Vertrag unterschrieben, mit unserer Seele. Dann hätten wir uns im Prinzip an dieses Business verkauft. Wir brauchten das als Bestätigung, dass es uns noch gibt in diesem Zirkus. Man kann sich nicht vorstellen, was in diesen anderthalb Jahren los war, vor allen Dingen für Greenhorns wie uns. Wir kamen aus mittelständischen, behüteten Familien, waren nicht durch jahrelanges Spielen auf Kleinkunstbühnen gereift. Diese ganzen harten Wege sind wir gar nicht gegangen, wir haben auf einen Knopf gedrückt, auf einmal gingen alle Pforten auf, und wir wurden überschüttet mit diesen ganzen Ereignissen aufgrund dieses extremen Erfolges.

B: Was viele nicht glauben, ist, dass bei diesem ersten Album nicht das geringste Kalkül dahinter steckte. Irgendeine Art von Schubladendenken, wir machen das jetzt so und so, damit der und der das gut findet – diese Gedanken gab es gar nicht. Ohne dass wir es wussten, haben wir die Wünsche, Vorstellungen, Erwartungen von Plattenfirma und Plattenindustrie erfüllt, das lief alles wie von selber. Und dann standen wir bei „Afternoons In Utopia“ vor diesem Punkt, dass wir das, was da erlebt worden ist, irgendwie verarbeiten mussten. Wo wir dann erst gemerkt haben, dass die Plattenindustrie tatsächlich Erwartungen an uns hatte, die sie auch gerne umgesetzt haben wollte. Worauf wir aber nicht die geringste Lust hatten. Was Marian schon meinte: Wir mussten das so machen, um unsere Seele zu retten.

M: Diese beiden Alben, „Afternoons In Utopia“ und „The Breathtaking Blue“, waren die Voraussetzung dafür, dass es uns heute noch gibt. Die sind insofern irrsinnig wichtige Alben und Grundsteine für die ganze Existenz von Alphaville. Und beide Alben sind eben genau aus diesem Grund extrem – jedenfalls für Alphaville-Verhältnisse – experimentierfreudig. Wir mussten erstmal alles ausloten. Bei „Forever Young“ waren wir irgendwie fasziniert von dieser Idee des Pop. Von dreieinhalb Minuten, von Singles. Nicht aus kommerziellem Kalkül heraus, sondern weil uns das einfach fasziniert hat. Diese kurzfilmartige Struktur von Musik, mit einer Geschichte darin. Beim ersten Album sind das so blitzlichthafte, kurze Momente. Das war natürlich total im Sinne der Plattenfirma, immer auf der Suche nach dem ultimativen Konzept: Wie schreibe ich eine Hitsingle? Das ist das, was wir mittlerweile im deutschen Hip Hop haben, was da hundertprozentig aufgeht. Wenn man sich zehn, 15 zeitgemäße Hip-Hop-Produktionen reinzieht, das ist Schema F, unfassbar, wie ähnlich sich diese Songs alle sind. Kommerziell funktioniert das total.

Da gibt es ja auch diese 30-Sekunden-Regel, für Spotify und Co.

M: Total. Vom Intro über erste Bemerkungen des Sängers bis zum Einsatz des Grooves ist das unfassbar konstruiert, und das funktioniert immer wieder. Plattenfirmen sind natürlich immer auf der Suche nach diesem Konzept. Und wir hatten das damals mit unserer ersten Single, „Big In Japan“, völlig unbeabsichtigt realisiert. Das war die zweite Nummer, die wir überhaupt je geschrieben haben. Die erste hieß „The Bubblegum Event“. Wir fanden es toll, dass wir überhaupt in der Lage waren, Nummern zu schreiben, auf denen ich singen kann und die nach Musik klingen. Wir hatten ja keine Ahnung, wie man Musik produziert, Instrumente spielt, von Harmonielehre oder so etwas. Trotzdem ist so ein Song dabei herausgekommen. Es gab am Anfang überhaupt keine Dissonanzen mit der Plattenfirma, es gab keinen Grund dazu. Es funktionierte alles wie am Schnürchen.

Wie seid ihr beim zweiten Album, also „Afternoons In Utopia“, an die Produktion herangegangen? Man hört ja sehr deutlich – auf der Neuauflage jetzt noch deutlicher als zuvor – heraus, dass der Soundansatz viel breiter ist.

B: Wir haben einige Songs nach dem ersten Album geschrieben, einige Songs waren vorher schon da. Dass das klanglich anders geworden ist, gerade durch die vielen Gastmusiker, war gar nicht unbedingt das Ansinnen. Das kam relativ spontan, nach dem Motto: Wir wollen das Spektrum erweitern. Das war aber nicht das primäre Ziel. Das war eher inhaltlich, dieses „Afternoons In Utopia“ und die Rettung unserer Seele. Die Produzenten, Pete Walsh und Steve Thompson, kamen dann aus ihrer Geschichte heraus dazu, Gastmusiker einzuladen. Das hat gut funktioniert. Wir waren auch im Hansastudio, diesem Riesenstudio, in dem alles möglich war. Man darf einfach nicht vergessen, dass dieses Entdecken der Möglichkeiten für uns eine Rolle gespielt hat. Es war ja nicht so, dass wir das alles kannten. Das erste Album haben wir komplett in einem kleinen Studio bei unserem Verleger aufgenommen. Auch professionell, aber eher klein, beengt und intim. Das war schon im Vergleich zum Hansastudio oder auch zum Media Sound in New York, wo wir dann mit Steve Thompson zwei Songs aufgenommen haben, eine völlig andere Welt.

M: Jedes Mal, wenn wir gesagt haben, wir würden das gerne so oder so machen, dann sagte der jeweilige Produzent (wir haben insgesamt mit dreien gearbeitet): Ja, kein Problem, das machen wir so. „Wir wollen ein größeres Studio, wo wir vielleicht 48 Spuren hinkriegen.“ – „Ja. Hansa!“ Das war überhaupt kein Problem. Auf einmal ging das alles. Beim ersten Album war das noch so: „Ja wir hätten gerne an der einen Stelle einen Kinderchor.“ – „Oh, da haben wir jetzt aber echt ein Problem.“ – „Wir würden gerne dieses oder jenes machen.“ – „Hmhm, ich weiß nicht, ob das noch im Budget ist.“ Es war eine ganz andere Situation. Das hat sich so ergeben. Von unseren musikalischen Ansätzen sind wir genauso vorgegangen wie beim ersten Album, aber auf einmal standen uns alle Türen offen. Man kann jetzt natürlich sagen, gerade in der Begrenzung liegt auch eine gewisse Qualität, die es im zweiten Album irgendwie nicht mehr gibt. Aber dem würde ich extrem widersprechen. Denn es hat uns ermöglicht, in völlig andere Bereiche zu gehen. Beim ersten Album gab es immer mal Probleme, durch die man Umwege gehen musste, wodurch man auch andere Ideen bekam. Bei „Afternoons In Utopia“ war es mühelos, ein geradliniges Ding.

Wie war denn das so, als ihr euch jetzt mit dem Remastering beschäftigt habt, nach all den Jahren wieder Kontakt mit dem Material aufzunehmen?

M: [grinst] Da muss ich jetzt sofort was sagen, bevor Bernd etwas sagt. Ich bin Bernd da so unglaublich dankbar. Als er mit dieser Idee ankam, hatte ich wirklich null Bock darauf. Du hast jeden Song während der Produktion zehntausendmal gehört. Wenn du das Album fertig hast, legst du es beiseite. Das Einzige, was du davon nochmal hörst, sind irgendwelche Singles, die im Radio laufen, oder ein paar Stücke, die du vielleicht im Liveset hast. Ansonsten beschäftigst du dich damit nicht mehr. Keiner kann mir erzählen, dass er das tut. Und ich hatte irgendwie relativ wenig Motivation. Aber Bernd meinte, nee, lass uns das mal machen. Lass uns mal rumwühlen, vielleicht finden wir noch alte Masterbänder usw. Und dann haben wir das gemacht, dann hat Bernd, zusammen mit Stefan Betke – einem genialen Remastertypen – diese Masterbänder bearbeitet, und als ich das dann zum ersten Mal gehört habe, wurde mir klar: Wahnsinn! Was haben wir denn da gemacht? Das ist ja völlig abgefahren! Weißt du, wenn du manchmal so einen Geruch in die Nase kriegst und auf einmal ganz viele Pforten in deinem Gehirn aufgehen …

Ja, das kenne ich.

M: … und du erinnerst dich an tausend andere Sachen. So ähnlich war das mit diesen remasterten Songs, auf einmal gingen bei mir alle Türen auf. Mir fiel auf einmal alles Mögliche ein, warum wir das gemacht haben und wieso, die Hintergründe usw. Diese ganzen Geschichten, die diese Songs erzählen, die ich schon alle vergessen hatte. Danke Bernd! Und jetzt du! [beide lachen]

Bernd, willst du noch etwas dazu sagen?

Ich bin total happy, dass das jetzt in optimal hörbarer Qualität da ist.

Bernhard Lloyd

B: Nee, eigentlich erübrigt sich das. Ein Detail noch: Ein Teil der Motivation, das zu machen – schon bei „Forever Young“ vor zwei Jahren – war tatsächlich, dass ich über die letzten Jahrzehnte unhappy mit den CDs war. 1984 oder 1986 steckte CD-Mastering noch in den Kinderschuhen. Da war es noch eher so, dass man Wert auf das Vinyl-Mastering legte, und die CD wurde irgendwie nebenbei gemacht. Einer der Motivationsgründe war also, dass ich gesagt habe, es kann nicht sein, dass diese Alben in dieser Qualität in die Geschichte eingehen. Bei „Forever Young“ war das CD-Mastering katastrophal, aber das grundsätzliche Mastering war ziemlich gut. Bei „Afternoons In Utopia“ war es so, dass wir aus Zeitgründen nur einen halben Tag hatten, um überhaupt ein Vinyl-Master zu machen – und wie das CD-Master entstanden ist, weiß ich nicht. Vermutlich im Presswerk einfach überspielt worden. Das jetzt zum vielleicht letztmöglichen Zeitpunkt korrigieren zu können, fand ich tatsächlich wichtig. Und wenn man sich dann damit beschäftigt, da muss ich Marian zustimmen, erinnert man sich, wie man bestimmte Dinge damals gemacht hat. Die Experimentierfreude von damals. Und ich bin total happy, dass das jetzt in optimal hörbarer Qualität da ist. Ohne dass wir da am Spirit etwas gedreht hätten! Wir haben da einfach nur so einen Schleier weggenommen.

Das hört man auch.

M: Wir haben ja die 24-Spur-Bänder. Und bei verschiedenen Vocals gibt es auch Fehlintonationen oder den einen oder anderen kleinen Verspieler. We left that untouched, wir haben nichts an diesen Sachen verändert. Der Spirit entsteht nicht nur aus den Dingen, die richtig sind, sondern auch aus denen, die vielleicht nicht so gut gelaufen sind, die aber trotzdem eine wichtige Funktion innerhalb des Stückes bekommen. Und das kommt durch dieses Remastering vollkommen klar hervor. Bei „Afternoons …“ ist es ganz extrem. Bei „The Breathtaking Blue“ … Das war ja das erste Album, was wir in kompletter Eigenregie gemacht haben, zusammen mit Klaus Schulze, der war im Prinzip der godfather of the production. Bernd und ich hatten Probleme, wie das so ist in einer kreativen Ehe. Ohne Klaus wären Alphaville in dieser Zeit auseinander gebrochen. Dafür sind wir ihm alle ewig dankbar. Natürlich hatte er auch Einfluss auf die Produktion, aber die Stellschrauben lagen erstmals in unseren eigenen Händen, vor allem in denen von Bernd, der dieses Studio nach all unseren Bedürfnissen aufgebaut hat.

Wo gerade die Formulierung mit dem Schleier fiel, kann ich gleich mal zu den damaligen Formaten kommen. Die Laserdisc-Produktion zum dritten Album z. B., ein Format, das es ja nicht ganz geschafft hat. Und diese Videos oder vielmehr Kurzfilme, die nun doch noch einmal das Licht der Welt erblicken. Ich denke, die werden nicht sehr viele kennen, von diesem oscarprämierten Kurzfilm („Balance“) und der einen oder anderen Single abgesehen. Wie seid ihr da herangegangen – und wie zufrieden seid ihr jetzt damit?

B: Total zufrieden! Das mit der Technik und der Geschichte ist schon ziemlich irre. Es war ja damals ein mutiger Schritt, die Plattenfirma zu bitten, das Videobudget für zwei Singles lieber darauf zu verwenden, von allen Songs Kurzfilme zu drehen. Wir haben uns aber überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, mit welchem technischen Medium man das den Zuhörern/Zuschauern zugänglich macht. Und dann gab es eben Laserdisc und CD-Video, die damals auf den Markt kamen, wo man glaubte, das ist jetzt die Zukunft. Ich selber habe nie einen Laserdisc-Player besessen, und bis auf einen Menschen kenne ich keinen, der überhaupt einen besitzt.

M: Pete [Walsh, Produzent, Anm. d. Red.] hatte einen, glaube ich.

B: Genau.

M: Ich habe damals noch einen gesehen, der stand bei Warner herum. Sah aus wie ein Kopierer. [lacht]

B: Und die Alternative war halt VHS. Über die Qualität von VHS-Kassetten brauchen wir nicht zu reden. Zusätzlich ist damals bei der Überspielung der 35-mm-Filme ins Digitale irgendetwas schief gelaufen. Was ich kannte, war alles ziemlich dunkel und verrauscht. Ich habe dann in meinem Keller eine graue Kiste gefunden, von der ich nie so richtig wusste, was da drin ist. Irgendwann habe ich mal reingeguckt und festgestellt, dass da tatsächlich 35-mm-Filme drin sind. Da stand dann drauf: „Songlines 1-7“.

M: Das war echt ein Glücksfall [grinst]. Die Originalbänder!

B: Diese Kiste war ’89 zusammengepackt worden, stand erst in unserem Studio herum, und als wir das ’95 aufgegeben haben, ist die Kiste halt zu mir gewandert und stand in der dunkelsten Ecke meines Kellers. Was für Filme gut ist. Und diese [neue] digitale Überspielung von den 35-mm-Filmen sieht super aus. Als wäre das gestern gedreht worden.

M: Wenn man da einen A-B-Vergleich macht, ist der Qualitätszuwachs unfassbar. Das ist im Prinzip die Visualisierung des Remasterings.

Wie seid ihr jetzt zum Medium DVD gekommen? Da könnte man heutzutage ja schon wieder darüber diskutieren, ob man nicht auch BluRay hätte nehmen können. Oder es nur online anzubieten.

M: Wenn es als DVD rauskommt, wird es ja sowieso irgendwann im Netz stehen. BluRay … klar … [überlegt] … Weißte was? Darüber habe ich gar nicht nachgedacht, das ist eigentlich eine gute Idee. Wir haben ja die Masterversionen, darüber könnte man nachträglich noch nachdenken. Bernd?

B: Im Gespräch mit der Plattenfirma ging es darum, welche physikalischen Produkte man anbieten könnte. Da haben wir dann gesagt, dass sowohl zur Vinyl- als auch zur CD-Variante eine DVD dazukommt. Als Konsequenz aus CD-Video, was damals keiner gucken konnte – DVD kann jeder gucken.

Das ist das Kompatibelste im Moment, ja.

B: Genau. Das ist am weitesten verbeitet. Jeder BluRay-Player kann DVDs abspielen, aber nicht jeder DVD-Player BluRays.

M: Aber wir können das nachträglich durchaus noch auf BluRay herausbringen.

Wie seid ihr bei der Auswahl der Tracks fürs Bonusmaterial vorgegangen?

B: Der hauptsächliche Gedanke war Vollständigkeit. Single-Versionen, 12“-Versionen, so viel haben wir da ja damals nicht hervorgebracht. Da gibt es andere Bands, ich denke an dieses Quartett aus England, das in einem ähnlichen Genre wie wir tätig ist. [beide grinsen]

Nie von denen gehört.

[alle lachen]

B: Wie viele 12“ von Depeche Mode gibt es insgesamt? Viele jedenfalls. Da waren wir eher sparsam. Es gab zu jeder Single eine B-Seite, die nie auf dem Album war. Das war essenziell.

M: Das war übrigens eine Idee, die wir von einem anderen, auch bekannten, englischen Quartett übernommen haben. Nämlich The Beatles. Immer, zu jeder Single, eine exklusive B-Seite. Meistens waren wir noch im Studio, die Singles kamen ja zuerst raus. Da haben wir schnell eine B-Seite dazwischengeschoben. Das heißt, dass wir an einem Tag den Song geschrieben und produziert und am nächsten Tag gemischt haben. Totale Schnellschüsse, passte aber zu unserer ursprünglichen Arbeitsweise.

Hat man da manchmal überlegt, so eine B-Seite doch noch aufs Album zu packen?

M: Nee. Wir wollten ja gerade, dass die Singles dadurch einen einzigartigen Charakter kriegen. Aber jetzt hatten wir die Gelegenheit, die Sachen durch das Remastering mit drauf zu packen. Und auch die 20.000 Versionen von „Romeos“. [lacht]

Wobei ich da vor allem diesesn Teknopella Mix mag, den kann man mit seinem ordentlichen Bumms noch heute in die Clubs packen.

M: Das war der Remix, den wir damals total scheiße fanden, wenn ich mich richtig erinnere [lacht]. Ich finde den auch nicht schlecht und schäme mich heute für meine damalige Meinung. Das kam aus New York von irgendeinem Remixer. Wir fanden das damals kacke, haben es aber trotzdem veröffentlicht.

B: Nur als Promo in den USA!

Es fiel mir nur auf, dass beispielsweise „Next Generation“ von der Qualität her ohne Probleme auch albumwürdig gewesen wäre.

M: Finde ich auch, war uns aber damals nicht klar. Wir hatten gar keine Zeit, uns das zu überlegen. Aber ich kann da wieder ein berühmtes Beispiel bringen, wieder die Beatles. Als „Sgt. Pepper’s …“ damals herauskam, hatten die als Singles „Strawberry Fields Forever“ und „Penny Lane“. Jetzt stell dir mal vor, dass diese beiden Songs noch mit auf dem „Sgt. Pepper’s …“-Album gelandet wären, das sowieso schon das ultimative, unerreichbare Album ist! Wir sind vielleicht nicht ganz so genial wie die Beatles [grinst], aber es gibt gewisse Ähnlichkeiten.

Wie geht es jetzt weiter bei euch?

M: Neues Album, wir sind mitten in der Produktion. Arbeitstitel „Thunder Baby“, ich kann da noch nicht viel sagen. Bei allen Alphaville-Produktionen wussten wir am Anfang nie, wie das Ganze enden wird.

Und abschließend die Frage danach, was bei euch aktuell so für Musik rotiert.

M: Ich bin sehr im Independent-Bereich unterwegs, da passieren die Sachen, die später vielleicht mal eine Relevanz bekommen. Aber mich treibt da mehr die Neugier auf neue Strömungen. Musik ist etwas, das sich permanent verändert und wandelt. Momentan höre ich ansonsten unheimlich viel Fusion Jazz, was ich früher total scheiße fand. Ich stehe auf geniale Instrumentalisten. Und Funk. Den fand ich schon immer faszinierend. Hömma Bernd! [Bernd verdreht schon eine Weile spöttisch die Augen]

Da bricht einer zusammen.

M: Ich meine: „The Breathtaking Blue“, da sind extrem viele funkige Elemente drauf.

Und jazzige auch.

M: Bernd findet Funk wahrscheinlich heute noch zum Kotzen.

B: Bei mir ist das völlig anders. Was aktuelle Musik angeht, bin ich eher gelangweilt. Ich bin viel mit meiner anderen Band, Atlantic Popes, beschäftigt. Weil ich versuche, da soundtechnisch zur Anfangszeit des Synthiepops zurückzugehen, beschäftige ich mich eher mit den alten Sachen von damals und versuche, diesen Spirit wieder hinzubekommen.

M: Mit sehr hörenswerten Ergebnissen!

Vielen Dank für das Gespräch!

Label: Warner Records

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www.alphaville.earth

www.facebook.com/avmoonbase

Thomas Bästlein

Thomas Bästlein schreibt (früher unter dem Spitznamen Addison) seit Anfang 2007 für depechemode.de. Hauptberuflich arbeitet er im öffentlichen Dienst. Du kannst Thomas online bei Facebook treffen.

1 Kommentar

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  1. Tolles Interview

    Leider hat die Musik von Alphaville nach „Breathtaking Blue“ nicht die Aufmerksamkeit und den Erfolg bekommen den sie verdient hätte.
    Maybe „Thunderbaby“, soll Ende 2021 erscheinen.

Kommentare sind geschlossen.

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