Freitagabend irgendwo in Berlin am Zoologischen Garten. Ich suche nach meiner Freundin und während ich am Hotel Waldorf Astoria vorbeilaufe beobachte ich den Haupteingang. Dort stehen natürlich schon längst ein paar schwarz gewandete Depeche Mode-Fans. Kalt fegt der Wind durch die Straßen und rüttelt ein wenig an den „Dave Gahan & Soulsavers“-Konzertplakaten. Schon wieder Oktober, fällt mir ein. Erinnerungen werden wach an das letzte große Depeche Mode-Event: Die Premiere des Konzertfilms „Alive in Berlin“ Ende Oktober 2014.
Eigentlich hatten wir nicht vor, uns am Hotel zu positionieren. Wir wollten „nur mal kurz gucken“. Aber wie es dann eben so ist – und sicher kennen so einige DM-Fans diese Situation – bleibt man dann doch. Je länger man schon gewartet hat, desto größer wird die Angst, dass Depeche Mode zehn Minuten nachdem man bibbernd vor Kälte gegangen ist, auftauchen und Autogramme schreiben. Klassische Fan-Probleme. Als Devotee bleibt man dann besser da. Die Aufregung stieg, als sich ein schwarzer Van mit dunkel getönten Scheiben direkt vor dem Eingang postierte. Jemand erkannte den Fahrer, woraufhin ein Ruck durch alle Wartenden ging. Plakate wurden glatt gestrichen, Eddings gezückt, die Kamera bereits mit unterkühlten Fingern im Anschlag. Da ich Dave, Martin und Andy noch nie getroffen habe, wurde mir schon ein wenig schummrig bei dem Gedanken, dass gleich ein Drittel von Depeche Mode an mir vorbeilaufen könnte. Doch unsere Vorfreude wich herber Enttäuschung. Nach kritischem Blick schätzte man im Hotel die Lage wahrscheinlich absurderweise als „zu voll“ ein. Der Fahrer kam zurück, stieg in den Wagen und brauste davon. Große Enttäuschung machte sich breit, zumal es wirklich eine überschaubare Gruppe Fans war. Meine Freundin, die einen Monat zuvor bei U2 in Berlin war und auch vorm Waldorf Astoria stand, berichtete davon, wie viel Zeit sich die Band für ihre Fans, die bis zum Mittelstreifen auf der Straße standen, genommen hatte. Locker zwanzig Minuten hätten sie Autogramme geschrieben und Fotos gemacht. Das wünscht sich vermutlich auch jeder Depeche Mode-Fan.
Mittlerweile ist es dunkel geworden. Nach einer leckeren Currywurst flitzten wir zur S-Bahn. Jedes Konzert ist ein wenig wie nach Hause kommen. Hier und da bekannte Gesichter, der vertraute Depeche Mode-Rummel, ein schwarzer vorfreudig summender Schwarm. Dann endlich, um kurz nach 20 Uhr, erlischt das Licht im Tempodrom und Nebel wabert die roten Samtvorhänge der Bühne empor. Unter ohrenbetäubendem Jubel kommen die Soulsavers auf die Bühne, doch alle warten nur auf einen. Im tadellos sitzenden Jackett und perfekt gestylt betritt Dave Gahan die Bühne. Eine unfassbare Bühnenpräsenz, die sich dadurch bemerkbar machte, dass tausende Augenpaare gebannt nur auf ihn schauten. Mit dämonischem Glitzern in den Augen, genoss Dave sichtlich jeden Moment auf der Bühne, tanzte und dirigierte seine Devotees nach Belieben. Brav und zur Ruhe gekommen ist hier weit gefehlt. Dave versteht es auch ohne sich – wie sonst bei Depeche Mode – das letzte Hemd auszuziehen eine Form von Sinnlichkeit auszustrahlen, von denen die meisten Künstler nur träumen können. Obwohl „Angels & Ghosts“ (Amazon) erst eine Woche draußen war, gab es genug textversierte Fans und man merkte deutlich, dass die neuen Songs großen Anklang fanden. Ein stimmiges Set, dass durch Highlights wie „Shine“, „All of This and Nothing“, „Don’t Cry“ und „My Sun“ glänzte. Nur noch toppen konnte Dave dies mit seinen Soloklassikern „Kingdom“ und „Dirty Sticky Floors“ sowie – natürlich – zwei Depeche Mode Songs. „Condemnation“ und „Walking In My Shoes“ rundeten das Set stimmungsvoll ab. Gleich beim ersten Tastenton von „Condemnation“ brach frenetischer Jubel los. Zum bluesigen gospelbeeinflussten Americana-Stil, den Dave mit den Soulsavers macht, gehört eine Portion „Songs of Faith and Devotion“. Dennoch war es ungewohnt, ihn ohne Martin und Fletch zu sehen. Wahrscheinlich spreche ich jedem Fan aus der Seele, wenn ich behaupte, dass es bis zur nächsten Tour nicht schnell genug gehen kann. Ob bis dahin die Handykameras weniger werden, bleibt abzuwarten. Es ist schön und völlig akzeptabel, mal schnell die Kamera zu zücken, um ein Foto zu machen. Aber es kann nicht sein, dass man 60 Euro oder mehr für ein Konzert bezahlt, um dann nur durch die Linse dabei zu sein und anderen Fans ihre Sicht zu blockieren. Da kann man sich auch später die DVD kaufen. Den Spaß mit freien Armen und den eigenen Augen mitzufeiern, sollte man sich nicht entgehen lassen!
Insgesamt hatte das Konzert definitiv etwas von einem Gottesdienst. Die intime Atmosphäre mit knapp 3500 Plätzen tat ihr Übriges. Unser „own personal Jesus“ Dave Gahan mit einer beachtlichen Band – da vergisst man die Berliner Herbstkälte und die Enttäuschung am Waldorf Astoria wieder schnell. Gänsehaut-Moment: Als unzählige Blätter mit dem Satz „Thanks for visiting Berlin“ weiß im gedimmten Licht des Tempodrom-Zeltes aufleuchteten. Ein Meer von Fan-Liebe. Als tausende Fans mit den weißen Blättern winkten, erinnerte es ein wenig an ein Weizenfeld im Wind beziehungsweise dem epischen Finale von „Never Let Me Down Again“, das wir live so lieben.
Erschöpft und verschwitzt saßen wir nach dem Konzert noch auf der Treppe im Temprodrom, um etwas zu trinken, als plötzlich Jonathan Kessler an uns vorbei lief. Wir waren so überrascht, dass wir nicht reagierten, außer einem „Hey, guck mal, da ist Jonathan!“. Seltsam, jemanden, den man nur selten in Interviews oder auf DVDs sieht, „in echt“ zu sehen. Hätten wir Dave tatsächlich getroffen – wer weiß, was dann mit uns passiert wäre.
Presence of God
Abgesehen davon, dass das Waldorf Astoria am Breitscheidplatz steht, ein durchaus lesenswerter Konzertbericht. Vielleicht sollte man noch hinzufügen, dass Dave’s Stimme einfach nur toll an diesem Abend klang und man ihm seine Freude auf der Bühne sichtlich ansah. Er gehört da einfach hin und trotz des einfachen und recht reduzierten Bühnenaufbaus, schafft er es wie kaum ein anderer, eine solch beeindruckende Bühnenpräsenz zu erzeugen. Kurzum, ein grandios gelungener Abend samt Gänsehaut und rundum zufriedener Gesichter. Ein besonderer Dank gilt aber auch den Soulsavers, die Dave nicht nur die Bühne, sondern auch das Publikum überlassen. Es tut gut, solch gute Künstler an Dave’s Seite zu wissen und überhaupt ist es schön zu sehen, wie gesund und fit er doch derzeit aussieht. Insofern ist die Kooperation wohl auch ein wenig Balsam für die geschundene Musikerseele und lässt auf mehr von ihm hoffen.
Danke, sehr aufmerksam, Tom! Das war ein klassischer Dreher im Kopf – kam damals nämlich ÜBER den Alexanderplatz zum Zoologischen Garten ;).
Angel
beim lesen von elenis bericht – gänsehaut …
jaaaa. sich vor dem hotel entscheiden zu müssen „wann gehe ich“, um rechtzeitig zum konzert zu kommen, ist schon ein schizophrenes gefühl.
aber „wenigstens“ beim konzert konnten wir dann dave ganz nah sehen und mit seiner engelsgleichen stimme hören. selten habe ich (trotzt mikrosalat) daves stimme so klar und fest gehört.
das konzert war grandios und die stimmung um uns herum gleichfalls.
danke liebe soulsavers- / DM-/ dave gahan- fans für den tollen abend!!!!
Mit dem Bericht ist es von der Lokalzeitung bis zur Titanic nicht mehr weit. Das ist ja Satire pur.
Besser hätte es kein Schreiberling von der Presse schreiben können. Hier schreibt ein echter Fan für echte Fans.
Dieses Konzerterlebnis möchte ich in meinem Leben nicht missen. Ein Dave Gahan mal ganz anders und ohne Druck.
Das mit dem Gottesdienst hat was, obwohl ich vor Jahren aus der Kirche ausgetreten bin ;-) Ich bin nach fast einer Woche immer noch total verstrahlt und Dein Bericht hat das nochmal schön aufgefrischt, danke :-)
Du sprichst mir vom ersten Wort aus, aus der Seele!!! Wir haben uns bestimmt auch gesehen.
Sehr schöner Bericht! :)