Etwa vor einem Jahr hatten wir die Ehre, mit Gareth Jones über seine Studioarbeiten an Erasures legendäres „Wild!“ Album ein Interview zu führen. Schon damals hat der legendäre Klangbastler sein kommendes Solo-Elektronik-Musikprojekt erwähnt. Das mit großem Interesse erwartete Debütalbum des Studiomagiers, der vor allem dafür bekannt ist, seine unverwechselbare Studiotechnik auf Alben von Yann Tiersen, Interpol, John Foxx, Erasure, Grizzly Bear, Nick Cave, Depeche Mode und unzähligen anderen Alben anzuwenden, erscheint am 18. September. Aus diesem Anlass hat unser Redakteur, Janos Janurik wieder Fragen an ihn gestellt.
depechemode.de: Bei unserem letzten Gespräch hast du deine Erinnerungen über die Arbeiten an Erasures „Wild!“ Album zusammengefasst. Vince Clarke und Andy Bell haben gerade ihr neues Album veröffentlicht. Auf der Online-Launch-Party haben die Erasure-Jungs auch deinen Namen bezüglich eines neuen Remixes zu „Nerves Of Steel“ erwähnt. Könntest du bitte ein paar Worte über dieses Projekt sagen?
Gareth Jones: Andy hatte eine Idee für einen Remix-Ansatz, und ich war erfreut, ihm dabei zu helfen, diese Idee zu realisieren. Es ist eine Mischung voller Respekt. Es ist eine Hommage. Ich liebe Andy und Vince. Wir sind wie eine Familie. Es ist immer toll, mit ihnen zu arbeiten, also habe ich die Chance genutzt, an diesem Remix mitzuarbeiten. Ich habe auch einen zweiten ElectroGenetic Remix erstellt, der von unterschiedlicher Art ist. Vielleicht ein bisschen dunkler.
dm.de: Wenn wir von der Gegenwart in die Vergangenheit zurückblicken und einen Blick auf Deinen Lebenswerk werfen, dann sehen wir, dass du schon seit vier Jahrzehnten aktiv im Musik-Biz bist. Auf dem Kult-Debüt-Album von John Foxx aus dem Jahre 1980 warst du der Toningenieur. Erinnerst du dich noch daran, wie du deinen ersten Studio-Job erhalten hast?
GJ: Ein Musiker und Plattenproduzent, der Mike Finesilver hieß, besaß ein kleines 8-Track-Studio in Newington Green namens „Pathway“. Er gab mir großzügig die Möglichkeit, in seinem Atelier zu arbeiten. Vielen Dank Mike! Ich bin für immer dankbar dafür!
dm.de: Dein Name ist engst verbunden mit den Hansa Tonstudios in Berlin, wo du mit Aufnahmeatmosphären und mit der Methode des Samplings experimentiert hast. 2018 wurde der Film „By The Wall“ aufgeführt, der als eine Art Dokumentation erzählte, was sich zwischen 1976 und 1990 musikalisch in den Hansa Studios ereignete. Was sind deine besonders erwähnenswerte Erlebnisse über diese Hansa-Zeiten?
GJ: So viele großartige Musiker, von denen ich so viel gelernt habe. Diamanda Galás, Depeche Mode, Einstürzende Neubauten, Adrian Sherwood, Ideal, Nick Cave & The Bad Seeds, Conny Plank, Roma Baran, Daniel Miller, Fad Gadget, Palais Schaumburg, Wire, Holger Hiller, Crime and the City Solution. Die sind alle meine Lehrer.
dm.de: Durch deine Werke mit Depeche Mode, Erasure mit den Einstürzenden Neubauten und auch mit Nick Cave hast du dir einen Namen unter den Musikproduzenten gemacht. In deinem Portfolio befinden sich aber auch jüngere Künstler und Bands wie Apparat, Wovoka Gentle, Compact Disk Dummies oder Polly Scattergood. Bekommst du diese Anfragen für gemeinsame Arbeiten direkt von der neueren Musiker-Generation? Ich meine, kennen die dich und dein bisheriges Werk gut? Und vice versa, hast du deinen Finger am Puls der Ereignisse in der zeitgenössischen Popmusik? Könntest du mir neue Pop-Künstler erwähnen, die du für spannend genug hältst?
GJ: Ich werde direkt angesprochen, da viele von der jüngeren Generation einige dieser tollen Musiker kennen, mit denen ich in der Vergangenheit gearbeitet habe. Ich habe keinen Finger auf dem Puls. Ich bin ein Driftler. Eine Feder auf dem Atem Gottes.
dm.de: Als ich die Nachricht über dein Solo-Album bekommen habe, hat das mein Interesse sofort erweckt. Ich gehöre nämlich zu der Generation, die nicht nur die Alben ihrer Lieblingsbands hochschätzt, sondern auch die Arbeit deren Personen, die im Produktionshintergrund tätig sind. Du warst also immer ein Held von mir. Wie gesagt, ich war neugierig, wie dieses persönliche Werk von dir klingen wird. Wie lange hast du an diesem Album gearbeitet? Was war das Hauptmotiv hinter dessen Entstehung?
GJ: Ich habe mich verpflichtet, im Jahr 2019 ein Album zu komplettieren. Dieser persönliche Vertrag mit mir half mir, die Ziellinie zu überqueren. Ich arbeite seit 50 Jahren an dem Album. Die Motivation war, mich nicht zu enttäuschen.
dm.de: In wie weit war diese Arbeit anders als deine Studioarbeiten an den Alben von verschiedenen Künstlern? Wie war das erste Mal dein eigenes Chef zu sein und nur deine eigenen Ideen kompromisslos zu verwirklichen?
GJ: Ich arbeite sehr gerne mit Kollaborateuren. Und mag es, dafür angeheuert werden, für andere Künstler zu arbeiten. Eines der größten Dinge daran ist, dass die Person, mit der du arbeitest, dich immer inspiriert und dich vorwärts treibt. Mein ELECTROGENETIC-Projekt ist ein Soloprojekt, also war ich allein mit mir selbst (und meinen Träumen und Fantasien) und das bedeutete, dass ich mich inspirieren und ermutigen musste. Nicht immer einfach. Ich lernte viel über den Schaffensprozess, die Freude und den Schmerz des Engagements und musste intensiv mit meinem inneren Kritiker verhandeln, um etwas zu tun. Ausserdem habe ich ein noch tieferes Verständnis für die Herausforderungen erlangt, die so viele meiner lieben Freunde und Kollegen im Laufe der Jahre bei der Herstellung ihrer eigenen Musik und Kunst durchgemacht haben.
dm.de: Der Albumtitel „ELECTROGENETIC“ kann mehrere Bedeutungen haben. Durch die Schöpfung sind wir, Menschen – mindestens für eine gewisse Zeit – Gott ähnlich. Ich habe mindestens an etwas Spirituelles gedacht, als ich auch einen Blick auf das Albumcover geworfen hatte. Und du? Was wolltest du damit ausdrücken? Was steckt hinter dem Titel und dem Cover?
GJ: Mit dem Titel versuchte ich, meine Gefühle über die generative Kraft von modularen elektronischen Synthesizer-Patches auszudrücken. Wenn wir mit modularen Synthesizern arbeiten, bauen wir oft ein Patch, und es bietet etwas, das über das hinausgeht, was wir uns vorstellen oder erwarten können. Das passiert mir sicherlich oft, und es ist Teil der tiefen Kraft des kreativen Prozesses des modularen Synthesizers. In gewisser Weise gebiert also die Elektronik die Musik, und ich bin eine Art Hebamme, ein geborener Vater dieses Prozesses. Ich versuche, diesen Prozess in meiner Namenswahl hervorzuheben und widerzuspiegeln: ELECTROGENETIC.
Das Anch-Symbol und der Ehering auf dem Cover-Foto hängen an einer Lampe über meinem Schreibtisch, wo ich mein Tagebuch schreibe und zu Hause Musik mache, so dass ich sie jeden Tag sehe und als ich eine Reihe von Fotos von diesen kraftvollen Symbolen machte, realisierte ich, dass die zu meinem Albumcover hervorragend passen würden. Der Ehering gehörte meinem Vater. Die Schriftart, die ich für ELECTROGENETIC verwende, stammt von einer alten Mode-Schablone, die ich im Keller des Hauses meines Schwiegervaters gefunden habe. Ich liebe die schmutzigen analogen Umrisse der Schrift – sie bereichert und spiegelt meine Ästhetik und Musik wider.
dm.de: Als ich mir das Album angehört hatte, kam mir sofort ein „diese atmosphärische elektronische Musik mit Gänsehaut-Effekt habe ich seit langem vermisst“ Gedanke. Alles ist sehr poetisch und der Hörer wird dadurch sofort gefesselt. Wo hast du deine Ideen, Themen und die musikalische Ausdrucksweise dazu gefunden?
GJ: Das ist meine erste Solo-LP, es enthält also Bilder und Gefühle aus meinem ganzen Leben, und es ist inspiriert von allem, was ich bisher erlebt habe. Das wäre also eine sehr lange Liste! Das Album entstand, weil ich mich verpflichtet hatte, innerhalb dieses Jahres ein Projekt abzuschliessen. Ich fand, dass dies ein sehr mächtiger Prozess ist, der Vertrag mit mir selbst. Ich wollte diesen Auftrag wirklich erfüllen und das hat mich zur Fertigstellung, zur Ziellinie geführt. Auch meine Mutter und meine Schwiegermutter waren vor kurzem gestorben (mein Vater und Schwiegermutter sind vor einigen Jahren gestorben), also hat sich irgendwie alles verändert. Diese Erfahrung wurde in das gesamte Projekt eingeflossen. In gewisser Weise hoffe ich, dass es ein liebevolles Requiem für meine Eltern und alle Vorfahren ist, die vier Milliarden Jahre Lebenskette, die mir vorausgeht.
dm.de: Es ist zwar schwer „Lieblingstracks“ vom Album auszuwählen, weil es ein zusammenhängendes musikalisches Konzept ist, aber gibt es solche Teile des Ganzen, die mit ganz persönlicher Bedeutung für dich sind?
GJ: Jeder Track auf meiner LP verbindet sich mit jedem anderen Track. In gewisser Weise sind sie alle wichtig für mich, und in einer anderen Hinsicht ist «alles umsonst» – äußerst wichtig und gleichzeitig völlig unbedeutend. Das ist mein Leben. Ich hoffe, einige Hörer gehen die ganze Reise mit mir und hören die LP von Anfang bis Schluss, so wie es entworfen ist, um gehört zu werden. Und ich hoffe, die werden die Reise genießen.
dm.de: Die letzte Frage, die ich noch stellen möchte, betrifft deine Zusammenarbeit mit Daniel Miller unter dem Pseudonym „Sunroof“. Eure besondere Vorführung des Depeche Mode-Albums „Construction Time Again“ vor 10 Jahren in Berlin hat die Aufmerksamkeit der Depeche Mode-Fans auf sich gezogen. Genauso beliebt sind eure gemeinsamen Remixe. Gibt es noch solche Projekte, die von euch zu erwarten sind? Und was sind deine weiteren Pläne für die nahe Zukunft?
GJ: „Sunroof“ gibt es schon seit vielen Jahren, und ich hoffe, dass es noch viele Jahre weiter in die Zukunft reichen wird. Meine musikalische Beziehung zu Daniel ist eine der wichtigsten Beziehungen in meinem Leben, und wir haben es immer genossen, zusammen Musik zu machen, und ich hoffe, dass wir das auch immer tun werden. Beobachtet diese Seite für weitere News!
ELECTROGENETIC wird als Download, Stream und Kassette in limitierter Auflage über Calm + Collect am 18. September 2020 veröffentlicht.
Trackliste:
- The Beginning
- Trinity
- Mercury
- Michigan
- Farewell
- Goonhilly
- Safe Travels
- I Believe
- Alone Together