Viele unsere Leser kennen Chris Liebing sicherlich durch seine gelungenen Remixe von „Going Backwards“ für Depeche Mode. Doch der Hesse ist ja Anhängern von Techno und seinen vielfältigen Spielformen schon seit den 90ern ein Begriff. Mit seinem Album „Burn Slow“ hat er sich nun auf dem Mute-Label noch einmal neu erfunden – und uns im Interview ein paar Fragen beantwortet.
Doch zunächst noch kurz zum sehr empfehlenswerten Album. Das ist keineswegs ein rein auf die technoide Tanzfläche zielender Clubschieber, nein, hier geht Atmosphäre vor. Filmische Soundscapes, sorgfältig aufgebaute Tracks – selbst die durchaus namhaften Vokalgäste (u.a. Gary Numan, Polly Scattergood und Cold Cave) passen sich da eher harmonisch ins Klangbild ein, als besonders hervorzustechen. Highlights (neben den Vokalbeiträgen): das an das Gute der 90er erinnernde „Zero One“, das hypnotische „Novembergrey“ und das epische „Trilogy“. Ein Album, das man – der Autor dieser Zeilen schwört darauf – immer wieder sehr gern auflegen wird.
depechemode.de: Wie ist es, nach einer durchaus schon eine Weile andauernden Karriere ein (quasi) Albumdebüt vorzulegen?
Es ist ja nicht direkt mein Albumdebüt. Mein erstes Album habe ich 2003 auf meinem eigenen Label veröffentlicht, nachdem es (kleiner Fun-Fact am Rande) von Novamute abgelehnt worden war. Auf Novamute habe ich dann allerdings 2006 zusammen mit Speedy J unser Album “Metalism“ veröffentlicht. Von daher ist es nicht unbedingt ein Albumdebüt für mich, aber mein Albumdebüt auf Mute. Das fühlt sich immer noch unreal an und macht einen sehr happy.
Wann und wie kam dir die Idee, dass es ausgerechnet jetzt an der Zeit für ein Album sei?
Ich habe schon immer gedacht, dass DJ-ing und hin und wieder eine 12” zu veröffentlichen alleine nicht 100%ig zufriedenstellend ist. Man möchte ja auch irgendwann mal, wenn man älter wird, wissen, dass man irgendetwas Handfestes hinterlassen hat, und das ist nun mal ein Album. Mit einem Album kann man wesentlich mehr ausdrücken. Die Zeit dafür zu finden, war das Schwierigste, dafür musste ich einige andere Dinge in meinem Leben abstellen. Ich musste meine Label-Arbeit einstellen, und ich musste meinen Label-Podcast einstellen, weil mir das einfach viel zu viel Zeit raubte. Die Anfangsideen dafür kamen mir vor ungefähr fünf Jahren, und vor drei Jahren habe ich dann mit dem Album angefangen.
Ich muss mich immer noch jeden Tag kneifen, um mich zu vergewissern, dass es auch wirklich passiert ist.
Und wie kommt man dazu, dieses Debüt ausgerechnet bei (unserem Lieblingslabel) Mute zu veröffentlichen?
Das war nicht wirklich von Anfang an der Plan. So etwas kann man, glaube ich, auch gar nicht planen. Zufälligerweise, genau um den Zeitpunkt herum als ich mit dem Album begonnen hatte, traf ich mich öfters mit Daniel Miller. Aufgrund seiner DJ-Tätigkeit liefen wir uns oft über den Weg, und ich hielt ihn nebenbei immer wieder über die Fortschritte meiner Album-Produktion auf dem Laufenden. Und so ist ein Verhältnis zu Daniel entstanden, was über das DJ-ing hinausging und auch viel auf dem Austausch von Ideen beruhte. Als ich das Album an einem gewissen Punkt hatte, an dem ich dachte, man könnte es jetzt mal präsentieren, war Daniel der Erste, den ich fragte, ob er es mal anhören wollte. Er hat mir dann auch direkt unglaublich gute Tipps gegeben, aber es hat noch fast zwei weitere Jahre gedauert, bis wir an dem Punkt waren, an dem Daniel zu mir im Mute Office in London sagte: „Ich möchte dieses Album veröffentlichen.“ – welches womöglich einer der besten Momente meiner bisherigen Musikerlaufbahn war. Ich muss mich immer noch jeden Tag kneifen, um mich zu vergewissern, dass es auch wirklich passiert ist.
Gab es einen bestimmten Sound, den du auf dem Album erreichen wolltest?
Das kann man nicht wirklich so sagen. Ich habe mich eher treiben lassen und unter der Prämisse gehandelt, dass ich das, was dabei rauskommt, selber sehr gerne hören wollen würde. Dass dies am Ende auch wirklich gelungen ist, habe ich natürlich auch meinem Co-Produzenten Ralf Hildenbeutel zu verdanken, der mir unglaublich geholfen hat, Inspiration in Töne umzusetzen.
War von Anfang an klar, dass es eher nicht so technoid, sondern deutlich mehr in Richtung atmosphärischerer Klänge gehen würde?
Gewissermaßen schon, das war mit ein Grund dafür, Ralf Hildenbeutel mit ins Boot zu holen. Er ist nicht nur mitverantwortlich für viele frühe EYE Q Releases Anfang bis Mitte der Neunziger, sondern ist auch ein sehr erfolgreicher Produzent für Film und TV. Im Grunde wusste ich aber nur grob, in welche Richtung das Album gehen sollte und habe absichtlich nicht zu viel vorher geplant und nachgedacht. Ich hoffte, wenn ich mit Ralf im Studio sitze und einfach nur aus dem Moment heraus Entscheidungen treffe, dass etwas dabei rumkommen wird, was man so vorher nicht planen konnte. Die Atmosphäre im Studio und unsere langjährige Erfahrung haben dann den Rest erledigt. Ich war immer wieder selber überrascht, was am Ende des Tages dabei rauskam. Ein sehr toller Prozess, der sehr viel Spaß gemacht hat.
Du hast ja einige Gäste auf dem Album. Wie kam es zu diesen Kollaborationen (insbesondere mit Gary Numan, aber auch mit Polly Scattergood oder Cold Cave)?
Cold Cave sind alte Freunde von mir, könnte man schon fast sagen. Ich habe mit ihnen früher schon gearbeitet, zusammen mit Motor und Black Asteroid, von daher war es naheliegend, sie zuerst zu fragen. Gary Numan war einfach nur ein “long shot“. Ich kenne seinen Manager, sein Name ist Ade Fenton, und ihm habe ich irgendwann mal eine E-Mail geschrieben und ihn gefragt, ob Gary Numan Interesse hätte, ein paar Vocals, die ich geschrieben habe, für mein Album aufzunehmen. Und das ging dann auch wirklich sehr schnell und relativ problemlos vonstatten. Innerhalb von ein paar Wochen hatte ich Garys Vocals in meiner E-Mail-Inbox, und das war lange Zeit, bevor der Mute-Deal zustande kam. Das hat mich natürlich extrem überrascht und happy gemacht. Polly Scattergood und Miles Cooper Seaton waren Ideen von Daniel Miller persönlich, weil ich ihn während der Produktionsphase des Albums oft darum gebeten habe, mir mit seinem Wissen zur Seite zu stehen. Ich wusste, dass ich für zwei Tracks noch Vocalists brauchte, Daniel hat mich dann direkt mit Polly und Miles in Verbindung gesetzt und das Resultat könnt ihr auf dem Album hören. Damit kann ich nur noch mal bestätigen, was wir alle, denen Depeche Mode und Mute wichtig sind, wissen: Dass Daniel Miller wirklich, wenn nicht der beste, dann einer der besten A&Rs der Welt ist. Er weiß genau, wie er Menschen inspirieren und auf den richtigen Weg bringen kann. An dieser Stelle kann ich auch nur noch mal betonen, dass das gesamte Mute-Umfeld so unglaublich inspirierend ist, dass man eigentlich die ganze Zeit nur noch Musik machen will.
Daniel Miller … weiß genau, wie er Menschen inspirieren und auf den richtigen Weg bringen kann.
Und woher kommt dann die Idee, deren durchaus markante Stimmen zum Teil doch eher untypisch einzusetzen?
Die kommt wahrscheinlich daher, dass ich selber gar nicht daran gedacht habe, sie untypisch einzusetzen, sondern im Grunde nur vorgegeben habe, auf diesem Album von eigentlichem Gesang noch ein bisschen Abstand zu halten und es lieber ein bisschen dunkler im gesprochenen Stil zu gestalten.
Erste Depeche-Mode-Frage: Ich meine ja, im Soundbild durchaus ein paar (gelungene) Anklänge zu vernehmen. Insbesondere „Zero One“ hat so ein paar Elemente, die an DM-Sounds (und Remixe) aus den frühen 90ern erinnern. Kannst du diese Assoziation nachvollziehen, und ist das Zufall?
Da ich der Ansicht bin, dass es gar keine Zufälle gibt, ist diese Assoziation wohl irgendwo schon nachzuvollziehen. Dass Depeche Mode mich musikalisch in meinem ganzen Leben beeinflusst haben, ist absolut nicht abzustreiten. Dass Depeche Mode nicht nur mich irgendwie inspiriert haben, sondern die gesamte elektronische Musik, auch wenn das manche vielleicht nicht so wahrhaben wollen, ist eine absolute Tatsache. Wobei ich aber doch eher sagen würde, dass gerade der Track “Zero One“ Anklänge aus alten Eye Q Zeiten hat (das ist ein altes Frankfurter Label), wobei der Zeitpunkt der frühen und Mitte der 90er durchaus stimmt. Das war, glaube ich, musikalisch die Zeit, die mich am meisten geprägt hat – Ende der 80er und Anfang/Mitte der 90er Jahre.
Zweite Depeche-Mode-Frage(n): Wie kam es zu den Remixen zu „Going Backwards“, welcher davon ist dein Favorit und welchen Song würdest du von DM noch remixen wollen, wenn es machbar wäre?
Da gäbe es Einige, ich könnte eine ganze Liste mit Tracks machen, die ich gerne irgendwie remixen wollen würde. Wie es zu den Remixen kam? Ich wurde gefragt, ich wurde von Depeche Mode völlig unabhängig von Daniel Miller und Mute gefragt, die Single “Going Backwards“ zu remixen. Als ich Daniel davon erzählte, war er völlig überrascht und hat sich für mich gefreut. Ich wusste, dass Depeche Mode im Grunde genommen einen Club Mix von mir erwarteten – ich persönlich wollte aber eigentlich lieber einen langsameren Mix machen, der ja nun auch “Burn Slow“ heißt. Das ist, wie ich ganz ehrlich gestehen muss, mein persönlicher Favorit, da ich bei mir während dieses Remixes keinerlei Limitierungen zugelassen habe. Und das war dann für mich auch das erste Mal, dass ich den Term “Burn Slow“ benutzt habe. Damit wollte ich ausdrücken, dass ich auch gerne noch andere, nicht clubtaugliche Musik mache.
Die Tracks sind ja allesamt ordentlich lang, aber das knapp 20-minütige „Trilogy“ ist die absolute Krönung. Erzähl mal, wie es zu diesem Stück gekommen ist und ob das von Beginn an so episch angelegt war!
“Trilogy“ – das war während der Albumproduktion sozusagen der zweite und dritte Tag im Studio, und es war überhaupt nicht so geplant. Wir haben den Track einfach nur angefangen, dann klangen die ersten fünf oder sechs Minuten gut und mir fiel ein, dass man zu diesen ersten fünf, sechs Minuten vielleicht doch noch einen coolen Basslauf spielen könnte. Den wollte ich aber nicht schon am Anfang drin haben, also kam der dann irgendwann mittendrin. Dann kam die Idee mit dem “dreamy“ Mittelpart, mit dieser Art von Piano, aber dann ging mir das irgendwann alles zu schnell zu Ende. Und da dachte ich mir, vielleicht kann man noch ein anderes Ende mit einem stehenden Bass einbringen… Dass das am Ende irgendwie bei fast zwanzig Minuten geblieben ist, war nie so geplant. Ich dachte eigentlich, dass ich das auf acht oder neun Minuten zusammenkürzen würde. Aber nach mehrmaligem Hören war mir klar, dass man manche Dinge vielleicht einfach so lassen sollte, wie sie ursprünglich mal entstanden sind.
Zum Schluss frage ich immer gern, was gerade so im Tourbus rotiert. Also: Was hörst du derzeit so, gibt es Geheimtipps für unsere Leser?
Gerne doch, geht auf Spotify und folgt meiner “Burn Slow Playlist“, die habe ich exakt für solche Momente wie im Tourbus, im Flieger oder im Auto sitzend zusammen gestellt. Das ist eine Playlist, auf der Radiohead, Massive Attack, Nine Inch Nails und viele andere zu finden sind.
Vielen Dank für das Interview!
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