Home > Magazin > Interviews > Vince Clarke: „Ich hatte meine Freude am Prozess des Musikmachens. Alles andere ist ein Bonus.“
- Anzeige -
Vince Clarke im Interview

Vince Clarke: „Ich hatte meine Freude am Prozess des Musikmachens. Alles andere ist ein Bonus.“

/

Vince Clarke verรถffentlichte am 17. November 2023 sein erstes Soloalbum „Songs Of Silence„. Dass er nach mehr als vierzig Jahren im Popgeschรคft nun sein erstes Soloalbum aufgenommen hat, war lรคngst รผberfรคllig.

Obwohl der geniale Komponist und Klangzauberer neben seiner Hauptband Erasure mehrere Nebenprojekte hatte – man denke nur an die unzรคhligen Remixe, die Kollaborationen mit Martyn Ware, Paul Hartnoll und Martin Gore, seine Labelboss-Tรคtigkeit bei Very Records oder das fast unbekannte Album mit Instrumentalkompositionen namens „Deeptronica“ – ist dies doch das erste Mal, dass er eine LP unter eigenem Namen verรถffentlichte. Und er tat das auf dem Mutterlabel Mute Records. Ein Fest fรผr Fans der experimentellen elektronischen Musik.

Schon der erste Appetithappen war fรผr einige Fans ein Schock: Vince wagte sich auf die dunkle Seite, sein Solotrack „The Lamentations of Jeremiah“ klang dรผsterer und trauriger als je zuvor. Das dazugehรถrige Musikvideo, das in Schwarz-WeiรŸ gedreht wurde, verstรคrkte die dรผstere Stimmung des ersten Vorab-Tracks noch. Das war alles andere als der dynamische Elektro-Pop, fรผr den Vince Clarke bekannt ist.

Die zweite Vorab-Single „White Rabbit“ entsprach schon mehr dem typischen Musikstil des Erasure-Masterminds. Intelligenter Pop vom Feinsten, bei dem hypnotisierende, flirrende elektronische Beats das Tempo mit E-Gitarrenklรคngen und donnernden Drums am Ende hochhalten. Der visuelle Hintergrund war diesmal ein Animationsfilm mit pรคdagogischem Inhalt darรผber, wie wir „moderne Menschen“ sind.

Nach der Pause seit dem mehrschichtigen Klangkosmos „The Neon“ warten die Fans der Musik von Vince Clarke gespannt auf die erste Solo-LP ihres musikalischen Helden. Unser Redakteur Janos Janurik setzte sich mit Vince Clarke und seinem Partner in Crime, Reed Hays in Kontakt und informiert nun die Leser รผber die Details dieses Solo-Debรผts, das neue Hรถrperspektiven in Vince Clarkes bisher unbekanntes Paralleluniversum erรถffnet und รผber das besondere Album-Release-Konzert in London.

Der Titel ist eine kleine Hommage an „The Sounds of Silence“

dm.de: Als ich den Track „The Lamentations of Jeremiah“ zum ersten Mal hรถrte und sah, war ich emotional tief berรผhrt. Obwohl du mir in einem frรผheren Interview (etwa zur Zeit der Verรถffentlichung von „2Square“) gesagt hast, dass du immer noch gerne „Niemand versteht mich“-Songs schreibst, hast du so lange gewartet, um diese Seite von dir zu zeigen. Wenn es keinen Druck von Seiten des Labels gibt, bleiben diese Songs vielleicht in der Schublade. Ist das tatsรคchlich so? Hat Daniel Miller dich รผberredet, diese Kompositionen als dein erstes Soloalbum auf Mute zu verรถffentlichen?

Vince Clarke: Die Tracks, die ich wรคhrend des Lockdowns aufgenommen habe, waren nie fรผr ein Album gedacht. Ich habe die Zeit im Studio damit verbracht, mit Klang und Stimmung zu experimentieren. Ich schickte einige dieser „Experimente“ an Daniel Miller, den Besitzer von Mute Records, und er schlug vor, dass diese Sammlung von Klanglandschaften vielleicht als Album verรถffentlicht werden kรถnnte. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich die Musik nur fรผr mich selbst gemacht.

dm.de: Was den Albumtitel („Songs Of Silence“) angeht, es war nicht allzu schwer herauszufinden, dass es sich um eine Art Hommage an die legendรคre Filmmusik von Simon & Garfunkel handelt. Sie waren eine groรŸe Inspiration fรผr dich, selbst Musik zu komponieren, nicht wahr? Und welche Inspirationen hast du dieses Mal genommen? Oder bist du ganz deiner inneren Stimme gefolgt?

VC: Ja, der Titel ist eine kleine Hommage an „The Sounds of Silence“ und ich bin ein groรŸer Fan von Paul Simon. Gleichzeitig beschreibt „Songs of Silence“ genau das, worum es auf dem Album geht.

dm.de: Die Musik von Vince Clarke lebt auch ohne bombastischen Sound oder glitzernde Synthie-Pop-Effekte, das war mein erster Gedanke, nachdem ich dieses Album gehรถrt hatte. Welches Equipment hast du dieses Mal in deinem Heimstudio benutzt?

VC: Fรผr alle Tracks habe ich nur meine Eurorack-Module verwendet. Es war eine Gelegenheit, die Technologie kennenzulernen und mich wirklich auf die genauen Sounds zu konzentrieren, die ich brauchte, ohne von all den anderen Klangquellen in meinem Studio abgelenkt zu werden.

dm.de: Schon der Erรถffnungstrack („Cathedral“) entfรผhrt den Hรถrer aus der realen Welt und befreit ihn von der Matrix. Das Ganze hat etwas Religiรถses und Spirituelles, bei dem die Ganzheit der Welt mit der eigenen Existenz verbunden wird. Ein solcher Prozess ist notwendig fรผr die psychische Gesundheit und fรผr den Umgang mit negativen Gefรผhlen. War es bei dir auch so?

VC: Ich bin nicht religiรถs, aber das Wort Kathedrale suggerierte mir etwas GroรŸes und Wundersames. Ich empfand den Prozess der Aufnahme all dieser Tracks als kathartisch und hilfreich, um mit dem Stress fertig zu werden, den ich zu dieser Zeit erlebte.

dm: Einer meiner Lieblingstitel ist der „Red Planet“. Entspannende Ambient-Musik mit รคtherischen Stimmen. Ich denke, viele Fans – vor allem Depeche Mode-Fans – werden sagen, dass dies ihr Lieblingstrack ist. Hast du einen eigenen Lieblingssong auf dem Album?

VC: „Cathedral“ ist mein Lieblingssong, und ich mag auch „Passage“ sehr gerne, bei dem es um eine schwierige/unmรถgliche Reise geht.

dm.de: Nicht nur „The Lamentations of Jeremiah“, sondern auch „Scarper“ hat einen akustischen Touch – flamencoรคhnliche Gitarre. Wieder einmal ein Highlight des Albums fรผr mich. Habt ihr hier Samples verwendet oder hat jemand die Gitarre live gespielt?

VC: Reed Hays spielte Cello auf „The Lamentations of Jeremiah“ und die Gitarrenparts wurden von meinem Freund Steve Walsh gespielt.

dm.de: „Blackleg“ – ein weiteres Highlight des Albums, wenn auch nicht die stรคrkste Komposition – ist inspiriert von dem traditionellen Volkslied „Blackleg Miner“. Dein viel zu frรผh verstorbener Labelkollege Frank Tovey widmete 1989 ein ganzes Album den Liedern der Arbeiter („Tyranny And The Hired Hand„). Musik und Widerstand waren das Hauptthema dieses Albums. Und wie sieht das bei dir aus? Was hat dich an diesem Volkslied inspiriert?

VC: Der Song hat eine wirklich raue Seite. Der Text ist ziemlich gewalttรคtig und zeichnet ein krasses Bild des Elends der Bergbaugemeinde wรคhrend und nach der industriellen Revolution. Es war interessant, eine sehr synthetische Klanglandschaft mit etwas so Organischem zu mischen.

dm.de: „Last Transmission“ kรถnnte auch mit dem Erasure-Song „Turns The Love To Anger“ verwandt sein, vor allem mit dem Instrumental-Intro der Live-Version. Es ist wie ein Funksignal in den Weltraum, mit der Hoffnung, dass es einen Empfรคnger mit Empathie finden wird. Glaubst du in diesen schwierigen Zeiten noch an das Gute?

VC: Nein. Es fรคllt mir schwer, optimistisch zu sein.

dm.de: Du warst schon immer dafรผr bekannt, dass du nur ungern in Videoclips auftrittst. Aber fรผr das erste Promo-Video musstest du allein vor der Kamera stehen. Wo und wie haben die Dreharbeiten zu „The Lamentations of Jeremiah“ stattgefunden?

VC: Ich wollte, dass das Video eine gewisse Ernsthaftigkeit vermittelt, die die Traurigkeit von „The Lamentations of Jeremiah“ widerspiegelt. Es wurde an einem Tag in Brooklyn, New York gedreht.

dm.de: Zu „White Rabbit“ – einem weiteren Lieblingssong von mir – wurde ein Animationsvideo gedreht. Du hast kรผrzlich selbst lustige Cartoons („Gรผnter Finn“ und „Bacon And Eggs“) ins Internet gestellt. Wie hast du den Cartoonisten Daniele Arcuri fรผr den zweiten Clip gefunden?

VC: Ich sah sein Showreel auf Fiverr und war sofort von seinem respektlosen und verrรผckten Animationsstil angetan.

dm.de: Das Album-Release-Event in London wurde auch von kรผnstlerischen Videos begleitet und die Vorband war das Duo Gareth Jones und Daniel Miller (genannt Sunroof), das Elektro-Improvisation spielt. Die beiden haben eine groรŸe Rolle in deiner Karriere gespielt. War es fรผr dich selbstverstรคndlich, sie als Support einzuladen?

VC: Ich habe mich sehr gefreut, dass sie zugestimmt haben, die Show mit uns zu machen. Ich denke, die Kombination hat fรผr einen wirklich interessanten Abend gesorgt.

dm.de: Drei Wochen sind seit dem Konzert in London vergangen. Dein erstes Soloalbum hat sehr gute Kritiken bekommen, es ist auch an der Spitze der Albumcharts. Wenn du auf den ganzen Prozess zurรผckblickst, wie sind deine Gefรผhle jetzt? Hรคttest du ein solch positives Feedback erwartet?

VC: Um ehrlich zu sein, habe ich kein Feedback erwartet. Die Freude fรผr mich war der Prozess des Musikmachens. Alles andere ist ein Bonus.

Reed Hays, der Synthesizer-Spezialist und Meister des Buchla-Synthesizers, sowie langjรคhriger Freund von Vince Clarke schlieรŸt sich auch dem Gesprรคch an.

dm.de: Reed, du und Caroline wart die ersten, die einen Plattenvertrag bei Vince’s Very Records unterschrieben haben. Bisher habt ihr zwei Alben auf seinem Label verรถffentlicht und dann Erasure auf ihrer Tour 2018 unterstรผtzt. Jetzt hast du als Gastmusiker Cello fรผr Vinces Soloalbum gespielt. Wie kam es zu dieser Einladung?

Reed Hays: Wรคhrend der Reed & Caroline-Jahre lieรŸ Vince mich ein paar Instrumentalstรผcke zusammenstellen, um Veryrecords auf Soundcloud zu promoten. Einer hieรŸ „Buchla and Cello“ und der andere „Cello and No Buchla“, er war also bereits mit meinem Spiel vertraut. Wรคhrend der Arbeit an „Songs of Silence“ fragte er in seiner gewohnt hรถflichen englischen Art: „Wรผrde es dir sehr viel ausmachen, wenn ich dir etwas schicke, und vielleicht รผberlegen, ob es eine Art Cello darauf braucht?“ Ich habe den Teil absichtlich รผberspielt, weil ich dachte, er wรผrde das meiste herausschneiden, aber zu meiner รœberraschung hat er das ganze Stรผck behalten!

dm.de: Warst du – als fachkundiger Berater – wรคhrend der gesamten Schaffensphase dabei oder hast du nur das Endergebnis mitbekommen?

RH: Er hat mir einige der Stรผcke vorgespielt, wรคhrend er daran arbeitete, aber ich fรผrchte, ich hatte keinen „Expertenrat“ zu geben, denn sie klangen bereits erstaunlich. Ich erinnere mich, dass ich dachte, nur Vince Clarke kรถnnte etwas als „Drone-Stรผck“ bezeichnen, aber man wรผrde trotzdem mit einem eingรคngigen Teil im Kopf davonlaufen!

dm.de: Hast du schon deine eigenen Lieblingssongs von Vinces Soloalbum? Wenn ja, welche sind das und warum?

RH: Vince’s Freund Steve spielt bei „Scarper“ eine tolle Akustikgitarre. In „Cathedral“ gibt es einen kleinen flippigen Teil, der von Buchla inspiriert ist und mich natรผrlich jedes Mal zum Lรคcheln bringt, wenn ich ihn hรถre. Ich liebe den Sequenzer in „White Rabbit“, und natรผrlich ist seine Bearbeitung des „Blackleg Miner“-Songs wunderbar eindringlich.

dm.de: Am Tag der Verรถffentlichung warst du gemeinsam mit Vince in London auf der Bรผhne zu sehen. Welche Rolle hattest du bei diesem speziellen Konzert?

RH: In einer ganz und gar nicht vince’schen Umkehrung war nichts starr synchronisiert. Wir spielten Drones und lรถsten Elemente des Albums von Hand aus. Das Timing richtete sich ganz nach der Stimmung des Abends und den Eindrรผcken der Visuals. Und natรผrlich hatte ich ein Cello dabei. :-)

Vince Clarke und Reed Hays an der London School of Economics / Fotocredit: Jim Dyson

dm.de: Eine Zeit lang hattet ihr eine gemeinsame Radioshow auf einem alternativen New Yorker Radiosender mit dem Titel „The Synthesizer Show“, die bei Fans von Synthesizer-Musik sehr beliebt war. Vermisst du diese Radiosendungen? Redet ihr privat miteinander รผber das, was es Neues im Genre gibt?

RH: Es ist schon komisch, wenn man bedenkt, dass „The Synthesizer Show“ fast ein Jahrzehnt lang ein wichtiger Anker fรผr uns beide war. Es war eine groรŸartige Mรถglichkeit, den anstrengenden Tourplan mit Erasure zu unterbrechen, und wรคhrend Covid war es die einzige Aktivitรคt, die einer von uns beiden neben dem Familienleben hatte. Ich bin mir sicher, dass wir das Ende der „The Synthesizer Show“ noch nicht gesehen haben, aber jetzt mรผssen wir uns erst einmal um ein paar Konzerte in der Umgebung kรผmmern!

dm.de: Hast du derzeit etwas in Arbeit? Wird es ein weiteres Reed & Caroline Album geben?

RH: Ich habe viel Zeit mit dem Buchla 100 verbracht, dem frรผhesten Buchla-Instrument. Es ist auch das raueste und intuitivste von Mr. Buchlas Kreationen. Ich betrachte Reed & Caroline gerne als eine magische Zeitkapsel aus der Zeit vor Covid, aber in ein paar Jahren sind ihre Mรคdchen und mein Sohn aus der High School raus, also sag niemals nie!

Vince Clarke: Songs of Silence bei Amazon erhรคltlich und bestellbar.

- Anzeige -
Consent Management Platform von Real Cookie Banner