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Der Katalog 1 2 3 4 5 6 7 8
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Kraftwerk live in der Neuen Nationalgalerie Berlin

Draußen tobt ein wilder Orkanausläufer durch Berlin, drinnen in der Neuen Nationalgalerie ist es weder wild noch stürmisch. Hier stehen vier Herren im mittleren bis gesetzten Alter hochkonzentriert und nahezu unbeweglich an jeweils einem exakt vermessenen Schaltpult und zeigen dem Publikum, wie sie die elektronische Popmusik erfunden haben. Es ist Freitag. Dieser Abend steht unter dem Motto „Die Mensch-Maschine“. Es ist das vierte von insgesamt acht Konzerten, die Kraftwerk an aufeinander folgenden Tagen in dem weltbekannten Museum spielen.

Mit dem Konzept „Der Katalog 1 2 3 4 5 6 7 8“ tourt die Band seit mittlerweile über drei Jahren durch die Welt. An acht Abenden werden die Kraftwerk-Alben von „Autobahn“ (1974) bis „Tour de France“ (2003) in chronologischer Reihenfolge dargeboten, garniert mit den weiteren Klassikern der Düsseldorfer. Gespielt wird hauptsächlich an Orten der Hochkultur: im Museum of Modern Art in New York, im Tate Modern in London, im Burgtheater in Wien oder in der Oper von Sydney – und nun in der Neuen Nationalgalerie in Berlin.

Kraftwerk im Museum. Nun scheint Ralf Hütter, letztes verbliebenes Gründungsmitglied der Truppe und kreativer Kopf sowie strenger Herrscher über das Gesamtkonzept Kraftwerk, dort angekommen zu sein, wo er sich und sein Baby schon lange sieht: in den weltweit maßgeblichen Kulturstätten. Die Konzerte sind innerhalb von Minuten ausverkauft. Kraftwerks 3-D Performances sind Kunsthappenings.

In der Tat waren Kraftwerk stilprägend in der Popkultur. Ohne sie hätte es Hiphop oder Techno nicht in dieser Form gegeben. Das zeigt Hütter nebst Kollegen auch an diesem Abend in der leergeräumten Nationalgalerie. Die Songs – manchmal sind es auch nur Klanggebilde -, die vor 40 Jahren veröffentlicht wurden, klingen nicht wie Oldies aus einer anderen, längst vergessenen Zeit. Man spürt bei jedem Ton, wie modern sie noch sind. Ein klein wenig haben Kraftwerk Hand angelegt und „Autobahn“, „Spacelab“, „Neonlicht“, „Die Roboter“, „Radioaktivität“ und Co. sachte entstaubt. Die Beats sind kräftiger, manche Sounds härter, die gesamte Produktion klingt digitaler und hat Surroundeffekte. Es wurde jedoch keine Note verändert. So wird jedem der rund 1.000 Zuschauer schnell klar, wie wegweisend das Projekt aus dem Rheinland für all das war, was nach ihnen in der elektronischen Musik kam.

In ihren Texten haben sie die Datenspeicherung und den gläsernen Bürger, den heimischen Computer und sogar das Online-Dating beschrieben, Jahre bevor diese Dinge tatsächlich in der Gesellschaft zum Thema wurden. Die visuelle Präsentation macht Kraftwerk zum Gesamtkunstwerk. Hinter den vier Schaltzentralen laufen die optischen Umsetzungen der Songs in 3D. Jeder Zuschauer, am Eingang mit einer 3D-Brille ausgestattet, kann die minimalistischen Grafiken und Zeichnungen als dreidimensionale Gebilde mitten in der Konzerthalle erleben. Man staunt ehrfurchtsvoll vor dieser Performance aus computergenerierter Musik und digitalen Bildern. Welche Töne die Herrschaften Hütter, Schmitz, Hilpert und Grieffenhagen oben auf der Bühne tatsächlich live spielen, bleibt wohl für immer deren Geheimnis, so wie vieles im Kosmos Kraftwerk geheim gehalten wird. Das tut dem Vergnügen jedoch keinen Abbruch. Dies ist schließlich kein gewöhnliches Konzert, sondern eine Musik- und Videoinstallation.

So beeindruckend ein Live-Konzert von Kraftwerk auch ist, umso deutlicher wird auch, warum seit elf Jahren kein neues Album und seit 27 Jahren nur ganze zwölf neue Songs das Licht der Welt erblickt haben. Kraftwerk werden mit neuem Material keine Musikgeschichte mehr schreiben. Das hat dann nicht zwangsläufig Platz in den wichtigsten Museen der Welt. Neues von Kraftwerk wäre möglicherweise „nur“ guter Elektropop. Sie sollten es trotzdem wagen. Einen Platz in der Kunst- und Pophistorie haben sie durch ihre Vergangenheit und diese Konzertreihe eh sicher.

Henning Kleine

Henning (Jahrgang 1976) arbeitet als TV-Journalist in Hamburg. Er ist Synthie-Pop Liebhaber und großer Fan der Pet Shop Boys.

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