Von Gastautor Benjamin Meyer
Tausende Smartphones leuchten wie Sterne am tiefschwarzen Nachthimmel. Auf der Bรผhne pulsieren vier groรe weiรblaue Lichter. Da ertรถnen sirenenartige Klรคnge. Soundwellen tรผrmen sich auf. Der Herzschlag pocht laut und regelmรครig mit 80 Beats per Minute. Die Wellen schrauben sich hรถher, wรคhrend Martin Gore, Peter Gordeno und Christian Eigner unter dem Jubel der Fans die Bรผhne betreten. Dann stoppt der Puls abrupt, und fรผr Sekunden herrschen, zumindest musikalisch, Finsternis und Ruhe.
Es ist Christian, der die Stille bricht und den Sound mit ein paar harten Schlรคgen wiederbelebt. Schlieรlich betritt auch Dave Gahan die Bรผhne und bekommt seinen eigenen Applaus. Und jetzt rollt das schwere โMy Cosmos Is Mineโ heran. Wรคhrend des Songs wird das riesige โMโ in der Mitte der Bรผhne zum ersten Mal in Szene gesetzt. Steht das โMโ eigentlich fรผr โModeโ oder โMementoโ?
Egal, wichtiger ist: Jemand muss Dave und Martin daran erinnert haben, dass auch in Hamburg ein paar Fans leben, und so geben Depeche Mode am 17. Februar 2024 im Rahmen ihrer โMemento Moriโ-Tour ihr einziges Konzert in Norddeutschland. Auf das dรผstere โMy Cosmos Is Mineโ folgt mit kraftwerkesker Prรคzision โWagging Tongueโ, klar und hell wie die vertikalen Lichtstrahlen auf der Bรผhne. Spรคtestens nach Daves โGood evening, Hamburg!โ sind alle 16.000 in der Barclays Arena wach, und allerspรคtestens mit โWalking In My Shoesโ nimmt das Konzert so richtig Fahrt auf. Der Sound ist sehr gut, das Publikum groรartig. Die Band wird insgesamt 23 Songs spielen, vier vom aktuellen Album. Natรผrlich sind Klassiker wie โIn Your Roomโ, โNever Let Me Down Againโ und โPersonal Jesusโ dabei.
Auch dabei ist immer das โMโ auf der Bรผhne, das mit den unterschiedlichsten Lichteffekten, Bildern und Videos bespielt wird. Nach gefรผhlten ein, zwei Bieren, wรคhrend โBlack Celebrationโ, finde ich: Das โMโ kรถnnte auch ein auf den Kopf gestelltes โWโ sein wie โWagging Tongueโ oder โWalking In My Shoesโ. Oder โWilderโ. Bei โStrippedโ denke ich, dass der Fernseher (in โLet me hear you make decisions without your televisionโ) heute durch das Smartphone ersetzt wird. Andererseits gibt es im Netz dank der fleiรigen Filmer schรถne Videos von diesem Abend. Ohne Pause gefilmt zu werden, fรผhlt sich fรผr den Gefilmten vielleicht manchmal รผbergriffig an, aber er versteht sicherlich, dass sie nur festhalten wollen, was sie lieben. Denn auch der Kรผnstler will ja festhalten und macht weiter, bis zum letzten Ton oder Sound oder bis zur โLast Transmissionโ (Vince Clarke). Und auch deswegen, vermute ich, spielen Depeche Mode โ apropos Vince โ den Klassiker โJust Canโt Get Enoughโ. Weil sie noch nicht genug haben.
Memento Mori hin oder her: Wer will schon wirklich gehen oder aufhรถren? Einer der bewegendsten Momente in dem (von Anton Corbijn im Video zu โGhosts Againโ zitierten) Ingmar-Bergmann-Film โDas siebente Siegelโ (1957) ist der, als der Tod wiederkommt, und zwar zum letzten Mal. Jetzt gibt es keine Mรถglichkeit mehr, ihn mit einer Schachpartie hinzuhalten. Antonius Block sucht immer noch verzweifelt nach dem Sinn des Lebens, und Jรถns ist zynisch wie eh und je. Und das Bewegende? Das ist die Reaktion der jungen Frau ohne Namen. Was sagt sie im Angesicht des Todes, der die Gruppe mitnehmen will? Sie, mit leuchtenden Augen, sagt: โIch bin bereit.โ Sie hat anscheinend genug vom Leben.
Den Tod so anzunehmen, ist wohl das Schwerste รผberhaupt, aber Martin und Dave sind ja geรผbte Grenzgรคnger. Trotzdem versteht man Andys Frage: โDoes every song have to be about death?โ Fletch hรคtte vielleicht ein Veto gegen die schaurig-schรถne Totenkopf-Visualisierung von โEnjoy The Silenceโ eingelegt, denn Anton unterlegt damit sogar eines der lebensbejahendsten Depeche-Lieder mit Todessymbolen. Ist das eine Umdeutung des Songs? Ist mit โSilenceโ jetzt die postmortale Stille gemeint? Und was heiรt das โEnjoyโ auf den Schรคdeln? Dass ich eigentlich ein dead man walking bin? Das stimmt natรผrlich, aber noch lebe ich: โIโve been mistaken for dead. But not tonight.โ
Martin hat es in einem Interview erklรคrt: Das โMemento Moriโ sollte einen nicht runterziehen. Es geht darum, das Leben zu genieรen. Auch Peter, Christian, Martin und Dave genieรen das sensationelle Konzert. Getragen werden sie von der Energie des Publikums. Nach โEverything Countsโ stellt Dave beeindruckt fest: โso much better than Berlin.โ Sagt er das, weil er ein Profi ist? Oder war das in Hamburg tatsรคchlich ein ganz besonderes Konzert? Wer weiร, mit etwas Glรผck liegt in zehn Monaten eine CD unterm Weihnachtsbaum. Der Name der CD: โThe World We Die In And Live In Hamburgโ.
Hamburg besonders eitel?
Ich finde es schon interessant das diese รuรerung von Dave in Hamburg soviel Trubel erzeugt und das dies รผber soviel Artikel (meist kopierte Newsartikel was nicht unbedingt fรผr unsere Medienlandschaft spricht) hochgespielt wird. Im Falle von Hamburg jedoch irgendwie besonderns im Vergleich zu allen anderen Stรคdten.
Hier mal paar Beispiele seiner Kommentare allein in den letzten Wochen jeweils nach Everything Counts:
Manchester 29.01 „much better than London“ (2. vorher war das 2.Konzert in London)
Glasgow 31.01 „much better than Manchester“ (2 Tage vorher war Manchester)
Dublin 03.02 „much better than england“ laut einem Bericht einer irischen Zeitung, hab das jedoch nicht auf video gefunden
Berlin 14.02. „much better than anywhere else“ (wie schrecklich wenn da groรe Artikel draus generiert worden wรคren)
Berlin 16.02. „much better than the other one/night“
Hamburg 18.02. „much better than Berlin“
Berlin 20.02. „much better than Hamburg“ (wer hรคtte damit gerechnet?)