Im Winter 2007 geschah es, dass vom schรถnen Dresden her ein warmer Eisregen voller Talent und Innovationsmut auf die deutsche Musiklandschaft herabfiel. Wie sie so ist, bemerkte dieses trรคge Wesen den Niederschlag nur in Randgebieten. Wenn man jedoch die aktuellen Singlecharts zum Maรstab nimmt (was an dieser Stelle ja รคuรerst selten geschieht), so scheint dies nun anders zu werden. Die zweite Welle dieses wundervollen musikalischen Naturereignisses kรถnnte deutlich ergiebiger einschlagen.
Vorerst genug metaphert, wir haben noch genug Text vor uns. Fรผnf Jungs aus Dresden – Felix Rรคuber, Philipp Makolis, Christian Grochau, Uwe Pasora und Bernhard Wenzel. Zum Teil seit Schรผlerbandzeiten zusammen unterwegs. Musikalisch (aus)gebildet und mit einer beachtlichen Scheuklappenlosigkeit gesegnet. Synthesizer, (Post-)Rock, klassische Musik – das lรคsst sich doch miteinander verbinden. Zu einem vรถllig eigenen Stilmix, รผber den sich Felixโ auรerirdische Stimme in mitunter unglaubliche Hรถhen schwingt.
Das selbstbetitelte Debรผtalbum brachte dann auch Vergleiche mit so unterschiedlichen Kรผnstlern wie Radiohead, Sigur Ros, Muse oder The Notwist ein und warf mit dem grandiosen โDreamdancerโ und โSomedays Sundaysโ auch zwei Achtungshits ab. Dazu kamen gefeierte Liveauftritte, mal mit Streicherbegleitung, mal in fast klassischem Rock-Lineup (aber doch noch mit Keyboard).
Nun sind sie bei der groรen Plattenfirma gelandet, die Single โAllein Alleinโ (inklusive deutschsprachigen Chorrefrains) lรคuft im Abspann eines Kinofilms (โKrabatโ, kann man sich รผbrigens ruhig ansehen) und bei diversen TV-Sendern, schon ist die Geschmackspolizei alarmiert (online in diversen Foren nachzulesen). Jetzt auch noch dieser Chartseinstieg, auf Platz 8, Hut ab! Die sind klar unten durch. Oder?
Natรผrlich nicht. Herrgottnochmal! Kommt runter vom schwarz-weiร-gescheckten Ross! Hier geht eine รคuรerst talentierte Band einfach weiter ihren Weg. Und dieses Album klingt kaum, als hรคtte sie sich bislang fรผr den Markt verbiegen mรผssen. Klar, โThe Colour Of Snowโ hรถrt man das hรถhere Produktionsbudget an – das Filmorchester Babelsberg kann sich nicht jeder leisten. Und Mario Thaler nebst seinem Weilheimer Studio (The Notwist) gehรถrt in Deutschland auch zum Besten, was als Produzent gewonnen werden kann, zumal er nicht allein an den Reglern stand.
Aber trotzdem ist es keineswegs so, dass stapelweise weitere Hits wie die erste Single geschraubt worden wรคren. Mit diesem geraden Beat und diesem schlichten, aber auch so heftig eingรคngigen Refrain. Nein, da kรถnnen Fans des Debรผts aufatmen. Es bleiben genug Stรผcke, die entdeckt werden wollen. Als weitere dancefloortaugliche Single bietet sich allenfalls noch der Titelsong an. Der ist allerdings auch ein elektronischer Ohrwurm erster Kajรผte. Und etwas fรผr die Freunde musikhistorischer Verschwรถrungstheorien (die Experten aus dem DM-Forum wissen Bescheid ;-) ): Der Rezensent hรถrt kurz vor dem Refrain eine Spur John Farnham (โYouโre The Voiceโ) und im Refrain selbst dann Madonna (โThe Power Of Good-Byeโ, vielleicht ihr groรartigster Song รผberhaupt).
Nur ein Stรผck ist noch รคhnlich beatlastig, das fast schon trance-artige โRainhouseโ, welches aber in der zweiten Hรคlfte mit einem rockigen Break รผberrascht. Bei vielen Songs wechseln sich ruhige Momente mit Gefรผhlsausbrรผchen ab, zum Beispiel bei โName On My IDโ oder im Opener โTouristโ. Hier zeigt sich auch der auf dem Album mehrfach gebrauchte Wechsel zwischen englischer (รผberwiegend) und deutscher (vereinzelt) Sprache. Die Fantasiesprache, die auf dem Debรผt hin und wieder auftauchte, hat sich vorerst erledigt. รbrigens lauten die deutschen Sรคtze der ersten drei Songs: โWir kommen nirgendwo anโฆโ, โWir sind allein, alleinโฆโ und โWann hรถrt das aufโฆ?โ (auf dem toll orchestrierten und dann schrรคg groovenden โPrisonerโ). Trรคgt irgendwie zur leicht dรผsteren Atmosphรคre bei.
Ansonsten gibt es einige sehr ruhige Songs, die von den meisterlich arrangierten Streichern leben. Hier bietet sich das epische โRiver Loves The Oceanโ mit seinem vertrรคumten Falsettgesang zu Piano, Harfe, Streichern und engelsgleichen Chรถren fรผr weitere Filmmusikauftrรคge an, ein dรผsterer Mรคrchenfilm von Tim Burton wรคre passend. Oder das getragene und wunderschรถn gesungene โHeart Of A Manโ (Weihnachtssinglekandidat, liebe Plattenfirmensingleverkรคufermarketingexperten!). Ganz dicke Streicher fรคhrt schlieรlich das Finale โHappy Go Luckyโ auf. Das „Goodnight Lovers“ dieser Platte, vielleicht.
โThe Colour Of Snowโ von Polarkreis 18 wird sicher nicht jedem zusagen. Aber womรถglich รผberraschend vielen. Und das wรคre mal eine gute Nachricht fรผr die Musikszene. So vielseitige Werke gibt es hierzulande selten. Wie schon die Innuit sagten: Es gibt unglaublich viele Wรถrter fรผr Schnee. Und die Farben erst!
(Addison)
P.S. Polarkreis 18 live: 25.11. Potsdam, 26.11. Hamburg, 29.11. Kรถln, 01.12. Leipzig, 02.12. Mรผnchen, 03.12. Innsbruck, 05.12. Wien

Das Album ist wirklich klasse. Nur River loves the ocean kann man wirklich nur aus der CD kratzen, das geht gar nicht.