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Interview der Woche

Moderat im Interview: „Man macht eine kurze Momentaufnahme von der Zeit, in der man lebt.“

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Morgen veröffentlichen Moderat ihr viertes Album „More D4ta“ – und ohne unserer in den nächsten Tagen folgenden Albumbesprechung vorgreifen zu wollen: Es ist eine Wucht in elektronischen Tüten geworden. Wir haben mit einem Drittel der Band gesprochen. Über das neue Album, Inspirationsquellen in der heutigen Zeit – und darüber, welchen Albumtrack Moderat als ihren „Depeche-Mode-Song“ bezeichnen.

Berlin, April 2022. Wir sprechen mit dem Apparat-Teil der Band. Während der Modeselektor-Teil schnell die Osterferien für einen kurzen Familienurlaub nutzt, sitzt uns via Zoom ein entspannter Sascha Ring gegenüber, der sogar so entspannt ist, dass er kurz vor unserem nachmittäglichen Date glatt eingedöst ist und sich nun mittels Kaffee zurück ins Leben beamt. Aber keine Sorge, Sascha ist schnell auf Betriebstemperatur.

depechemode.de: Wie läuft es mit den Proben, ist es anders als auf den Touren zuvor?

Sascha Ring: Zuallererst hat man nach fünf Jahren vieles vergessen, aber tatsächlich nur den technischen Mist. Was man so auf den Keyboards zu drücken hat, das bleibt irgendwie im Muskelmemory drin. Und ich bin nun wirklich kein begnadeter Keyboardspieler, trotzdem vergisst man solche Sachen nicht. Aber dieser ganze nerdige Kram mit einem Modularsystem: Wie hatte ich das jetzt gepatcht? Was für Module hatte ich überhaupt? Diese ganzen Verbindungen zwischen unseren Rechnern usw. Das ist auch alles upgegradet worden mit noch modernerer Technologie und more data [grinst], das ist jetzt alles digital auf der Bühne. Aber jetzt fängt der coole Part an, wir haben alles am Start, wir wissen, was wir spielen, wir wissen, wie wir es spielen, wir müssen es jetzt nur machen.

Habt ihr denn am Setup etwas geändert? Habt ihr Sachen neu gedacht, aufgebrochen, seid ihr die Visuals neu angegangen …?

Zuallererst müssen natürlich neue Songs rein. Dann muss das auch visuell überarbeitet werden, allerdings ist es auf der anderen Seite auch so, dass es mittlerweile viel gibt, was gut funktioniert. Wir haben ja erst zur dritten Tour herausgefunden, wie man am besten zu dritt auf der Bühne steht. So eine simple Sache, dass da zwei Typen an der Seite stehen, die eine Workstation haben, wo man nach vorne oder nach innen guckt. Und ich stehe in der Mitte und gucke nach rechts, links oder vorne. So dass man sich immer irgendwie mit irgendwem anblickt, das war ein Gamechanger. Versus diesem kraftwerkigen Nachvornegucken, wo man überhaupt nicht mit seiner Band connected ist. Das wäre ja schön bescheuert, wenn man das wieder ändern würde. Das größte Potenzial für Verbesserungen liegt tatsächlich gar nicht mal in irgendeiner Technikschlacht, dass man da jetzt noch einen größeren Screen und noch teurere Lampen hat, sondern einfach, dass man die Dramaturgie noch ein bisschen doller ausfuchst. Dass man nicht mehr die Show als Reihenfolge von fetten Songs denkt, sondern als eine große Show, die man von vorne bis hinten sieht. Leider muss man sie dann immer in der Reihenfolge spielen, aber man kann sich ja Inseln einbauen, wo man variieren kann. So kriegt man aber die Möglichkeit, dass man ein richtiges Theaterstück hinstellt, zusammen mit den Visuals. Mit einer Höhen- und Tiefendramaturgie, da haben wir, glaube ich, einen ziemlichen Sprung nach vorn gemacht.

Das klingt gut. Geht ihr denn an die alten Songs, die ihr auch spielen werdet, nochmal ran, was die Versionen angeht?

Sowohl als auch. Bei vielen merkt man, dass da mittlerweile die Fahnenstange in Sachen Evolution erreicht ist. Songs, die wir jetzt schon über drei, vier Touren spielen, da hat sich jedes Mal etwas verändert, und irgendwann hat man das richtige Arrangement, die Sounds sind auch perfekt. Allerdings hat man manchmal das Pech, dass man Sounds nicht mehr findet, da muss man notgedrungen etwas Neues bauen. Oder man merkt bei der Probe doch noch, wo man etwas verbessern kann. Bei den neuen [Stücken] gibt es definitiv immer Liveversionen, und die werden sich mit jeder Show ändern. Das dauert dann ein paar Monate, bis man eine richtig gute Version am Start hat. Was jetzt nicht heißen soll, dass die ersten Shows kacke werden, das ist ja auch fürs Publikum interessant.

Ich finde, der Albumtitel ist sehr geschickt gewählt. Fällt es denn im permanenten Datenstrom noch leicht, durchatmen zu können?

Das ist eine interessant gestellte Frage! Weil das genau deswegen als Titel gewählt wurde. Weil das sehr charakteristisch für diesen Moment war, in dem wir diese Platte gemacht haben. Dass es nochmal einen weiteren Turbo beim Shift ins Digitale gab. Zwangsweise, weil wir persönlich nicht mehr so viel machen durften. Es wurde begonnen, das Essen online zu bestellen, nur noch Zoom-Calls, die Kinder lernen digital usw. Das hat einen Prozess, der eh schon passiert ist, nochmal beschleunigt. Auch die Art und Weise, wie unsere Medienlandschaft funktioniert und wie wahnsinnig fokussiert die auf ein Thema ist. Wie, wenn man Radio hört und nur noch Hits, Hits, Hits, gespielt werden. Als gäbe es nichts anderes mehr. Wenn man dann versucht, etwas Schöpferisches auf die Beine zu stellen, muss man sich zwangsweise isolieren. Gar nicht mal unbedingt, weil man Angst vor einem Virus hat, sondern weil man Angst vor Verwirrung oder zu viel Input hat. Weil man gar nicht erst zur Ruhe kommt und eine Balance findet, in der man genügend bei sich selbst und den zwei anderen im Studio ist.

Wie war es dann, wieder zusammenzutreffen im Studio? Gefühlt seid ihr so – ihr sagt das ja auch recht offen – dass ihr euch nach einer gewissen Zeit nicht mehr ertragen könnt, nach einer Weile aber der Drang wieder da ist, etwas zusammen zu machen.

Eigentlich ist das ja genau die Idee hinter Moderat, das irgendwann mal als Urlaub von unseren Projekten entstanden ist. Dann hat das eine Eigendynamik entwickelt und ist groß geworden, größer als die Soloprojekte. Trotzdem ist diese Idee der alternierenden Platten geblieben, die wurde nur nach der zweiten Platte ein bisschen vernachlässigt, weil wir dann gleich in die dritte eingetaucht sind. Es gab einen Flow, dieses Umdenken zu den Soloprojekten oder zu Moderat dauert ja auch immer `ne Weile und ist auch mit einer Anstrengung verbunden, auf die wir in diesem Moment keinen Bock hatten. Und da habe ich das Gefühl, dass wir fünf Jahre mehr oder weniger kontinuierlich auf Tour waren. Das war halt ein Overkill. Es war trotzdem nicht so, als hätten wir uns dann scheiße gefunden. Es war ein bisschen so, dass wir gefühlt haben, wenn wir das jetzt noch weiter auf die Spitze treiben, dann finden wir uns vielleicht scheiße.

Auf einmal ist der Knoten geplatzt, und es war wieder Moderat.

Sascha Ring

Wir haben sozusagen präventiv aufgehört, als es am besten war. Das hat gut funktioniert und uns auf jeden Fall gutgetan, dann auch wieder Solosachen zu machen. Das ist wichtig, es staut sich ja auch so ein kreatives Bedürfnis an, was man bei Moderat nicht ausleben kann – ich muss dann für mich wieder eine Platte machen, die ganz klein und intim klingt im Gegensatz zu den großen Momenten bei Moderat. Und jetzt hat es lange gedauert, sich wieder zusammenzuraufen, schon allein aus dem Grund, dass wir uns zwei Jahre überhaupt nicht getroffen haben. Dann haben wir angefangen, zu labern, wie wir das machen wollen, haben uns ein Jahr lang so zufällig im Studio getroffen und herumgejammt oder nur Musik gehört. Und dann auf einmal ist der Knoten geplatzt, und es war wieder Moderat.

Habt ihr euch denn vorgenommen, dass ihr an dem typischen Moderat-Sound irgendetwas anders machen wollt? Es gab hier und da ein paar mehr Field Recordings, habe ich gelesen. Bis hin zu den Wildnissounds auf „Drum Glow“.

Das ist ein ganz klassisches Sample. Das gab’s in den 90s, und das war in einem sehr populären, ich glaube, dem Emu-Sampler. Deswegen war das auf einmal in verschiedenen Songs drin. Das ist auch ein sentimentaler Rückblick.

Klar, deswegen hat das auch so lange gedauert. Wir haben sehr viel herumüberlegt, wie wir uns jetzt im Zweifel neuerfinden könnten. Ich zum Beispiel habe dann immer gleich Megaambitionen und will alles ganz anders machen. Und dann brauchte es auch diese Zeit, um herauszufinden, dass es doof ist, alles ganz anders zu machen. Einfach, weil das ja schön ist, dass es zwischen uns diese Energie gibt, die am Ende genau diese Musik hervorbringt. Wenn man sich quält, das mit Mutwillen anders zu machen, macht man es kaputt.

Dann kann es auch schnell krampfig werden.

Die typische Moderat-Arbeitsweise hat den typischen Moderat-Sound hervorgebracht, und wir haben uns an verschiedenen Stellen erlaubt, ein bisschen mehr in Extreme zu gehen. Zum Beispiel bei „Undo Redo“, das so eine richtig crazy Modularsession war, die dann auch ein bisschen ausrasten darf. Am Ende ist es Moderat mit einer etwas längeren Leine.

Wo du den Track gerade ansprichst. Wie habt ihr euch denn die Reihenfolge der Singles oder Vorabtracks überlegt? „Undo Redo“ wäre für mich ja ein relativ großer Kandidat gewesen.

Jeder sagt das [lacht]. Ich muss ganz ehrlich sein: Mich interessiert das überhaupt nicht mehr, dieses Singleding. Ich find’s total nervig, es ist oberflächlich, es hat auch nichts mit der Art und Weise zu tun, wie ich selbst eine Platte höre. Deswegen habe ich als Musiker auch den Anspruch, eine ganze Platte zu machen. Und deswegen lasse ich diesen Singlekram am Ende jemand anderen entscheiden, das ist im Grunde bei uns dann das Label gewesen. Ich saß natürlich mit in den Meetings drin, aber ich habe mich da bewusst nicht mehr groß eingebracht. Wenn es nach mir ginge, würde ich heute sagen, dass nächste Woche Mittwoch eine Platte im Laden steht.

Ohne dass etwas vorher herauskommt.

Genau. In der Gänze des Werkes. Ohne Singles und Videos.

Das trauen sich heute nur noch Leute wie Beyoncé.

Man kann so mutig sein, aber am Ende hängen da natürlich noch einige Leute mit dran, die andere Bedürfnisse haben. Und da kann man versuchen, seine Pseudomacht auszuspielen – man kann es aber auch einfach lassen und seine Kraft in andere Dinge stecken. Ich freue mich jedenfalls auf den Moment, wenn das Album releast wird.

Ihr habt das ja stilistisch mit diesen Zwei-mal-vier-Buchstaben-Titeln. Wie wichtig war das für euch?

[grinst] Wir haben das unglaublich bereut. Wir saßen letzte Woche zusammen im Studio und Gernot [Bronsert] hat immer noch überlegt: Wie hieß jetzt der Song nochmal? Das ist wirklich crazy, wenn man etwas mit acht Buchstaben betitelt, dass es dann irgendwie austauschbarer wird. Es wäre wichtig, dass ein Wort mal länger und mal kürzer ist, um sich das besser merken zu können. Ich muss immer noch zweimal überlegen, welcher Track jetzt „Doom Hype“ ist oder so. Insofern war das jetzt ein Konzept, das gut zu „More D4ta“ gepasst hat, das bei manchen Songs auch unglaublich viel Sinn macht. Und bei anderen ist es ein bisschen wie bei unserer ersten Platte, als wir dachten, wir sind smart und schreiben so unglaublichen Quatsch in den Pressetext. Wir hatten z. B. geschrieben, wir haben uns ein ganz teures Hallgerät aus Kalifornien mit dem Schiff liefern lassen. Und dann mussten wir in jedem Interview Stellung zu diesem Kack nehmen, den wir nur erfunden hatten [lacht]. Da haben wir uns schnell geärgert. Aber wir haben anscheinend nicht daraus gelernt und uns nun wieder so ein Ei gelegt.

Jetzt überlegt wahrscheinlich auch jeder, weil der Albumtitel ein Anagramm ist, ob denn nun in jedem Track auch noch welche stecken.

Es ist teilweise auch so. Ich kann es dir selber jetzt gar nicht so genau sagen. Ich glaube, „Neon Rats“ ist ein Anagramm. Und irgendwas ist noch versteckt. Und natürlich machen bei den Songs mit Lyrics am Ende die Titel wirklich Sinn, die sind dann auch mit Bedacht gewählt. Bei Instrumentals dagegen vermittelt der Titel bestenfalls eine emotionale Verbindung.

Was die Reihenfolge angeht, stand die relativ früh fest? Es ist ja recht markant, dass fast alle Songs mit Vocals jetzt hintenheraus kommen.

Ach komm, da ist schon nochmal ein Instrumental dazwischen [überlegt]. Es ist wirklich eine Bastelei und der gleiche Anspruch, den wir auch bei der Liveshow haben. Unsere Art zu produzieren ist so, dass wir eine größere Zahl von Songs hervorbringen. Wir haben ungefähr 30 Skizzen, davon produzieren wir 18 fertig, und dann kommen immer nur elf oder so auf die Platte. Das heißt, man hat schon noch Möglichkeiten, und das ist dann ein ziemliches Gefriemel. Außerdem passiert es wirklich oft, dass man einen Song, der eigentlich toll ist, nicht auf die Platte packen kann, weil man ihn nicht mehr reinkriegt.

Weil er nicht mehr in den Flow passt.

Früher haben wir so etwas dann hinten drangehangen, und die Platte wurde dann nach hinten immer faseriger. Zum Beispiel die Zweite, die ist vorne total stark und hinten franst es aus. Das haben wir dieses Mal nicht versucht. Wir haben einen Anteil von Songs zurückgehalten, den wir dann live spielen oder noch irgendwas damit machen können.

Wenn du jetzt also den Eindruck hast, dass sich hinten die Vocals konzentrieren, dann ist das völlig bewusst aus Versehen passiert. [lacht]

Macht ja auch nix. Der Anfang und das Ende waren aber sicher relativ klar. „Fast Land“ bietet sich als Intro an. Dass man den aber als Instrumental vorab vorausschickt, war schon eine interessante Idee.

Wie gesagt, ich habe mich da herausgenommen, finde aber immer besser, wenn wir uns zurückmelden, dass es so etwas vage ist. Ich bin ein Freund einer gewissen Prise mysteriöser Aura. Man sagt natürlich weniger mit einem Instrumental, man legt erstmal nur eine Stimmung fest und das fand ich ganz gut als Idee.

Der setzt ja auch diesen trippigen Sound ganz gut. Auf der Vinylfassung kommt der dann in einer längeren Version?

Lustigerweise ist die Originalversion länger. Ich habe hier noch das alte Master mit der langen Version. Und dann hat Gernot die heruntergeschnitten, als er für einen Video Edit daran herumgebastelt hat, und dann war er auf einmal der Meinung, dass das so viel besser auf die Platte passt. Das Vinyl war aber da schon geschnitten, das muss man ja heutzutage sieben Monate vorher machen. Für CD und Streaming wurde das aber ausgetauscht, es gibt den Song jetzt also in verschiedenen Varianten. Das Gleiche könnte nochmal mit „Neon Rats“ passieren, weil uns während unserer Livevorbereitungen aus Versehen eine richtig geile Version gelungen ist, die unserer Meinung nach besser zum Flow des Albums passt. Keine Ahnung, ob wir es jetzt noch schaffen, das auszutauschen. Wir haben aber auch kein Problem damit, wenn die Streamingversion des Albums nochmal etwas anders ist.

„Neon Rats“ fällt in seiner jetzigen Fassung mit siebeneinhalb Minuten ja auch so ein bisschen raus, von der Länge her.

Absolut. Das haben wir im Studio auch gefeiert, dass das so ein epischer Aufbau ist und man dann einfach mal zwei Minuten lang auf einen Drop wartet. Das kann man aber auch anders angehen.

Wobei der wahrscheinlich für die Ravefraktion der Fans gerade in der Länge ein Highlight darstellt.

Die Liveversion ist witzigerweise kürzer, obwohl man denken sollte, dass dieser Zwei-Minuten-Drop das ist, was man live machen sollte. Um noch das letzte bisschen Drama herauszukitzeln. Das haben wir komplett umgeschnitten, aber das ist so unfassbar fett, dass es jetzt unser Highlight in der ersten Hälfte des Sets ist. Da tanzen wir immer alle, wenn wir proben.

Bin gespannt. Du hast dich für die Texte auf Spaziergängen durch die Gemäldegalerie inspirieren lassen?

Ich brauchte Inspirationen, und während der Pandemie gab es halt keine Reisen mehr. Mir fiel auf, dass mein Leben vorher voller Erlebnisse war. Und erst, wenn die wegfallen, merkt man, dass man jede Woche woanders auf der Welt war. Ich habe das auch woanders oft gemacht, in Ausstellungen zu gehen. Dann habe ich angefangen, mir in Berlin mal wieder die Orte in der näheren Umgebung anzugucken. Und die Gemäldegalerie hat mich früher schon geflasht, weil ich davor überhaupt nicht auf dem Schirm hatte, dass es in Berlin so eine unglaubliche Sammlung aus der Frührenaissance gibt. Das geht ja noch weiter, aber ich bleibe immer in den ersten Räumen hängen und gucke mir eigentlich immer sehr lange dieselben Bilder an. Weil die so wahnsinnig deep sind, mit viel Symbolismus und versteckten Bedeutungen. Alles natürlich sehr religiös, aber dafür habe ich auch ein Faible, obwohl ich null religiös bin. Aber das ist eine unglaublich komplexe Sache, die da erzählt wird, und für viele Leute, die damals kaum lesen konnten, war das quasi deren Comic.

Im besten Fall hält man das fest, für die Nachwelt, damit irgendjemand eine Erkenntnis daraus gewinnen kann.

Sascha Ring

Was ich dabei bemerkt habe und was mir sehr guttat, war, auch einmal zu realisieren, was macht man eigentlich als Künstler? Man macht eine Bestandsaufnahme, eine kurze Momentaufnahme von der Zeit, in der man lebt. Was passiert um einen herum? Im besten Fall hält man das fest, für die Nachwelt, damit irgendjemand eine Erkenntnis daraus gewinnen kann. Es ist auch interessant, dass es sich auch immer wieder um dieselben Themen handelt, dass sich das immer wiederholt. Es gab schon immer Kriege, Pest und Cholera und Krankheiten usw. Klar hat uns diese Krise echt aus der Bahn geworfen. Meine Generation hat nichts Vergleichbares erlebt, wir sind so eine happy Generation. Die 90er, das war so meine Zeit, da hat man immer nur die Sonne am Horizont gesehen. Klar ist da auch Scheiße in der Welt passiert, aber Deutschland hat sich vereinigt, alles war möglich. Ich war Ossi vorher …

Ich auch.

Kein kalter Krieg mehr, es sah alles sehr positiv aus. Und dann passiert jetzt zum ersten Mal so richtig krasser Mist, wo man denkt, wie sieht jetzt die Zukunft aus, kann ich meinen Job jemals wieder machen? Mit solchen Zweifeln ist es ganz gut, wenn man die relativieren kann und an solchen Orten ein bisschen meditiert und darüber nachdenkt, dass das öfter passiert ist. Und die Welt hat sich weitergedreht. Das ist pauschalisiert jetzt, für manche hat sich die Welt natürlich nicht weitergedreht.

Und es hört derzeit auch nicht auf mit den schlimmen Dingen … Die Texte sind ja auch düsterer als der Sound des Albums.

Ja, wahrscheinlich. Die sind jetzt nicht alle aus der Gemäldegalerie. „Undo Redo“ hat beispielsweise ein sehr aktuelles Thema. Da geht es um eine Idee, die ich mal hatte, nachdem ich eine Geschichte über den Tschetschenienkrieg gelesen habe. Für den ja der gleiche wahnsinnige Mensch verantwortlich war. Und da ging es darum, was denn irgendwann ist, wenn der Krieg vorbei ist. Wenn die Menschen, die verfeindet waren, wieder relativ nah zusammenleben. Und es auf einmal wieder andere Prioritäten gibt. Man versucht, das Land wirtschaftlich zu reanimieren, und muss irgendwie wieder zusammenleben. Wie geht das überhaupt? Wie kann man mit seinem ehemaligen Feind Tür an Tür leben? Das ist ein darkes Thema. Ich versuche, das relativ abstrakt zu halten.

Ja, man kann da relativ viel hineininterpretieren. Von der Coronageschichte, die man in einzelnen Zeilen erkennen kann, aber nicht muss, bis zu Menschen … Diese Stelle „the lament of the gentry“ in „Doom Hype“ kann man ja auch sehr weit interpretieren. Ob das jetzt der sogenannte „Landadel“ ist oder die Leute an sich.

Ich halte das gerne betont offen interpretierbar. Andere Leute schreiben gerne persönliche Lyrics und finden das gut, wenn sich da viel mehr über sie selbst mitteilt. Das habe ich überhaupt nicht als Intention, ich finde es besser, wenn man sich einem relativ konkreten Thema widmet, das aber so weit abstrahiert, dass es universell wird. Dass dann halt, wie du sagst, jeder für sich etwas heraushört und für sich passend macht. In dem Moment finde ich, dass es viel mehr Perspektiven gibt, dass jeder seine eigene Version dieses Songs hört. Das ist etwas total Schönes, finde ich. Es ist für mich zu platt, wenn ein Song zu eindimensional ist und sich einem sofort erschließt.

Ich bin durch meine ältere Schwester mit Depeche-Mode-Platten aufgewachsen.

Sascha Ring

Wo du eben „Doom Hype“ nanntest: Der ist ja so ziemlich das Poppigste auf dem Album und hat auch eine etwas andere Klangfarbe.

Das ist lustig. Bei dir muss ich es sagen: Bei uns hieß der immer „Der Depeche-Mode-Song“. Es ist ganz klar, dieses Chorus-Element kam aus einem Sampler der damaligen Zeit. Dann haben wir das ein bisschen geschichtet. Wir sind natürlich auch Fans und beeinflusst. Ich bin durch meine ältere Schwester mit Depeche-Mode-Platten aufgewachsen. Das war mit The Cure das Erste, was ich im Osten gehört habe, auf zehntausendfach überspielten Kassetten. Und dann findet am Ende doch mal so ein Element in unsere Musik rein. Das ist jetzt gar nicht unbedingt bewusst passiert, aber das wurde dann immer weiter ausgearbeitet, als es eh schon in diese Richtung ging. Ansonsten ist es so, wie ich vorhin schon sagte, dass wir uns als Moderat eine etwas längere Leine erlaubt haben und mal einen Beat machen konnten, der vielleicht ein bisschen hakeliger ist, als das normalerweise bei uns der Fall ist. Oder mal eine Referenz zulassen, die wir sonst nicht zugelassen hätten.

Ein anderer Song, der mich an eine noch ältere Band erinnert hat, wäre jetzt „Numb Bell“, der vielleicht so eine ganz kleine Spur Kraftwerk enthält.

Das ist auf jeden Fall nicht bewusst passiert. Wir haben uns bei einem anderen Interview mal darüber unterhalten, ob wir Kraftwerk-Fans sind. Und wir sind alle dazu gekommen, dass – klar – jeder von uns das Werk von Kraftwerk respektiert, wir aber nie richtig Fans waren, weil wir eine Generation sind, die Fans von Leuten sind, die von Kraftwerk inspiriert wurden. Das war für die so wichtig, z. B. für alle Techno-Produzenten aus Detroit. Die wir dann als Einfluss nennen würden, so dass wir gar kein Kraftwerk mehr brauchten. Der Song war eine Skizze von [Sebastian] Szary, der hat einen ganz anderen Ansatz. Meistens kommen Songskizzen von mir, wenn die mit Lyrics sind, macht es Sinn, wenn die bei mir anfangen. Hier ist es mal anders gelaufen, das fing bei Szary an, und der hat ein anderes Klangverständnis – und da kommt am Ende eine andere Referenz heraus. Vielleicht würde er die Frage auch anders beantworten.

Zum Schluss: Was steht noch an, außer der Tour jetzt? Noch weitere Veröffentlichungspläne?

Erstmal eigentlich nicht. Was ich persönlich gerne mal machen würde, was man als elektronische Band – oder generell als Band heutzutage – selten schafft: einfach mal live zu spielen und auch Songs zu spielen, die es noch nicht gibt. Und die dann nach den ganzen Erkenntnissen, die man sammelt, während man sie spielt, aufzunehmen. Das ist früher ganz normal gewesen. Bands konnten das gar nicht anders machen, die mussten die Songs 80-mal live spielen, bis sie die richtig drauf hatten, dann hatten sie drei Tage in einem teuren Studio und mussten das möglichst gut einspielen. Das ist halt heute völlig anders, und das ist ein bisschen schade, weil man während der 80 Liveversionen, die man da spielt, ja auch etwas über den Song lernt. Das ist nicht geplant, aber ich würde gerne die anderen Songs, die es jetzt noch nicht auf der Platte gibt, ein bisschen auf der Bühne reifen lassen und dann nochmal was nachschieben.

Vielen Dank für das Gespräch!

„Moderat – More D4ta“ bestellen:

Moderat live (Auszug):

17.05. Leipzig, WERK 2

18.05. Leipzig, WERK 2

19.05. Köln, Carlswerk Victoria

20.05. Köln, Carlswerk Victoria

03.09. Berlin, Parkbühne Wuhlheide

29.10. Offenbach, Stadthalle Offenbach

11.11. CH-Zürich, X-TRA

12.11. Stuttgart, Wagenhallen

13.11. Hamburg, Zeltphilharmonie

12.12. AT-Wien, Gasometer

moderat.fm

www.facebook.com/moderat.band

Cover des neuen Albums von Moderat mit dem Titel More D4ta.
Foto: Monkeytown Records
Thomas Bästlein

Thomas Bästlein schreibt (früher unter dem Spitznamen Addison) seit Anfang 2007 für depechemode.de. Hauptberuflich arbeitet er im öffentlichen Dienst. Du kannst Thomas online bei Facebook treffen.

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