So richtig damit rechnen konnte man nicht. Als das deutsche Synthpop-Duo Sea of Sin rund 18 Jahre nach ihrem Ende 2018 mit dem Comeback-Album („Future Pulse“), das neu aufgenommene Versionen ihrer alten Songs beinhaltete, plötzlich in den Top 10 der Deutschen Alternative Charts (DAC) standen, waren die beiden Bandmitglieder Frank Zwicker und Klaus Schill wohl die, die das am Wenigsten erwartet hatten. Im vergangenen Jahr folgte dann mit „Unbroken“ ein Album mit komplett neuem Material, das sogar auf Platz 2 der DAC schoss. Aus dieser Platte erscheinen nun umfangreiche Remix-Sammlungen.
Das bisherige Highlight ist die neue Single-Version von „Unspoken Words“.
Wir haben Sea of Sin, den Schwaben Frank und den Wahl-Hamburger Klaus, im Home Studio in der Hansestadt getroffen – zu einem Gespräch über die Band, die Anfänge im Musikbusiness, die Vorbilder und das aktuelle digitale Musikdauerfeuer.
Hallo Ihr Zwei! Was gibt’s Neues bei Sea of Sin?
Klaus: Bei uns passiert gerade richtig viel, allerdings ganz anders als wir das Anfang 2020 geplant hatten. Nachdem wir uns vor einiger Zeit nach fast 18 Jahren Pause wieder zusammengefunden haben, wollten wir nach zwei Jahren Produktionsphase jetzt endlich auch wieder live durchstarten. Wir hatten schon ein Konzert in Hannover fest gebucht und weitere waren in Planung – und dann kam das „C-Arschloch“! (lacht) Wir müssen jetzt alle Live-Pläne ins nächste Jahr schieben und haben deshalb die Strategie für 2020 um 180 Grad gedreht. Wir haben von unseren Songs, die wir die vergangenen zwei Jahre produziert haben, Remixes von internationalen Künstlern anfertigen lassen. Und eine neue Single, „Unspoken Words“, haben wir auch am Start. Für die kommenden Monate haben wir viel vor. Da wird einiges von uns an digitalen Releases kommen.
Frank: Das ist überwiegend Material von unserem letzten Album „Unbroken“, aber auch ein komplett neuer Song ist dabei, der recht poppig ist. Da sind wir auf die Reaktionen gespannt. Und sobald wir wieder dürfen, sind wir dann live unterwegs.
Klaus: Unser Booker hat uns gerade eben noch gesagt, dass er befürchtet, dass durch die derzeitige Krise ganz viele Venues und Locations über den Jordan gehen könnten. Das trifft dann vor allem die kleinen Künstler und Bands. Wenn es weniger Auftrittsmöglichkeiten gibt, dann geht das Hauen und Stechen los. Das wird ein großer Verdrängungswettbewerb. Das wäre auch für uns bitter.
Frank: Wir sehen das aber auch als Chance. Kein Mensch weiß, wie Konzertbuchungen künftig funktionieren werden. Ob sich ein Promoter traut, einen internationalen Act nach Deutschland zu holen? Braucht man dafür einen Gesundheitscheck oder müssen die Bandmitglieder erst einmal in Quarantäne? Das ist möglicherweise sehr risikobehaftet. Und vielleicht können wir dann genau in diese Lücke stoßen. Wir sind auf jeden Fall optimistisch.
Eure neue Single, „Unspoken Words“, ist eine überarbeitete Version des Albumstracks. Wie kam es dazu?
Frank: Das ist ein Song, den unsere Fan-Base von Beginn an gefeiert hat, als das Album rauskam. Wir fanden den Song zwar auch richtig gut, die Begeisterung, die unter den Fans um diesen Song aufkam, hat uns dann doch ein wenig überrascht. Daher haben wir dem Wunsch der Fans jetzt entsprochen und eine Single-Version aus „Unspoken Words“ gemacht und auch einige tolle Remixes an den Start gebracht. Die Version von Promenade Cinema taucht sogar in die Soundtrack-Sphären ein. Deren Remix gefällt uns besonders gut und wird auch von den Leuten sehr positiv angenommen. Inhaltlich geht’s in dem Song um eine Partnerschaft, die nicht mehr ganz frisch ist, in der sich Emotionen aufgestaut haben, aber keiner traut sich, es dem anderen zu sagen. Dadurch droht die ganze Beziehung zu zerbrechen. Unsere Kernbotschaft ist: Sprecht miteinander!
Klaus: Die Harmonie zu diesem Song, die gab es schon vor über 18 Jahren. Wir machen ja – mit Unterbrechung – schon seit 30 Jahren zusammen Musik. Was uns beeindruckt hat, ist, dass unser Label-Chef Hans Derer (ehemaliger Promoter von Depeche Mode; Anm.d.Red.) uns erzählt hat, dass er in seinem Büro unser Album kürzlich nochmals durchgehört hat und da ist ihm dieser Song erst so richtig aufgefallen. Er hat uns auch gesagt, dass das eine Single werden muss. Dadurch kam dann auch der Videoclip zustande. Unser Label ist Feuer und Flamme für diesen Song.
Frank: Hans hat es auch geschafft, uns ins Mainstream-Radio zu bringen. Wir liefen tatsächlich schon beim SWR und NDR. Das ist für einen Underdog wie uns natürlich ein großer Erfolg.
Wie fühlt sich das für Euch an, wenn man plötzlich Radio-Airplay bekommt und die Songs auf den Streaming-Plattformen großen Anklang finden?
Klaus: Klar, das macht einen stolz. Das Feedback der Fans ist das Futter, warum wir das alles überhaupt machen. Die Streams und die Kommentare in den Sozialen Netzwerken motivieren uns ungemein. Natürlich sagt jeder, dass man Musik für sich selber macht, aber die Reaktionen von Außen halten einen bei Laune.
Frank: Wenn man dann auch noch Anerkennung von Leuten bekommt, die selber Musik machen, dann pusht einen das umso mehr. Und das lässt die zarte Pflanze, die unser Comeback war, wachsen. Wir wussten ja selber nicht, ob sich überhaupt jemand nach so langer Zeit für uns noch interessiert. Wir haben ja erst einmal unsere alten Songs nochmal neu aufgenommen, um zu schauen, wie die Reaktionen darauf da draußen so sind. Wir haben schon gestaunt, wie schnell das Interesse an uns dank Social Media angewachsen ist.
Fangen wir mal ganz am Anfang an: Wie habt Ihr Euch musikalisch sozialisiert?
Klaus: Das ging vor ungefähr 30 Jahren los. Frank und ich kennen uns vom Gymnasium und waren damals in der gleichen musikalischen Szene unterwegs und gingen in die gleichen Clubs. Wir waren beide riesige Depeche Mode-Fans und natürlich alles, was drumherum standfand wie OMD, New Order, The Cure, Alphaville …
Frank: Talk Talk, Duran Duran …
Klaus: … genau. Die Musik der 80er Jahre hat uns definitiv sozialisiert. Ich hatte immer einen Faible für melancholische, düstere Musik. Damals war der Schritt, eine elektronische Band zu gründen, viel herausfordernder als heute. Heute kann sich jeder auf seinem Computer Programme herunterladen und denkt dann, er sei Musikproduzent. Wir haben uns das damals von der Pike auf selber beigebracht. Ich hab mir damals extra einen Atari ST gekauft, weil der als einziger Rechner eine DIN-Buchse hatte, wo man MIDI-Geräte anschließen konnte. Dann habe ich mir einen Casio-Sampler zugelegt und einen Yamaha-Synthesizer. Und dann haben wir schrittweise gelernt, diese Geräte zu bedienen.
Frank: Wir haben damals als DJs auf Partys aufgelegt. Dadurch ist auch der Wunsch entstanden, selber Musik zu machen. Und zwar weniger, um die Hits nachzuspielen, sondern vielmehr um eigene Songs zu schreiben. Natürlich war Depeche Mode ein ganz klarer Impuls für uns. Das waren die Ikonen der damaligen Zeit. Mit denen haben wir uns zu 100% identifiziert, was man in den ersten Songs auch gehört hat. (lacht)
Klaus: Das ging damals sehr gut los. Wir haben recht schnell einen Vertrag eines Hamburger Indie-Labels bekommen. Unsere Band hieß damals „Covent Garden“. Da es aber schon eine andere Band mit diesem Namen gab, mussten die ganzen CDs, die schon gepresst wurden, wieder zerschrottet werden. Das war richtig großes Pech! Wir sind dann zu einem anderen Label, haben uns neu benannt: Sea of Sin. Man muss rückblickend sagen, dass wir dann vielleicht schon fast ein kleines bisschen größenwahnsinnig geworden sind. Wir hatten Mitte der 90er Jahre das Angebot von Strangeways (Musiklabel u.a. von Wolfsheim; Anm.d.Red.), haben es aber nicht sofort angenommen, weil wir noch abwarten wollten, ob nicht noch etwas besseres um die Ecke kommt. Das war natürlich naiv und dumm.
Frank: Wir haben damals gedacht, wenn nach so kurzer Zeit Strangeways kommt und uns haben will, dann geht da vielleicht noch mehr. Wir haben auf Sony oder EMI, also ein richtiges Major Label, gehofft. Wir wurden dann aber sehr schnell von der Realität eingeholt. (lacht)
Wie seid Ihr damals auf den Bandnamen, Sea of Sin, gekommen?
Frank: „Sea of Sin“ ist der Name einer B-Seite einer Single von Depeche Mode. Deshalb hatte ich ihn unbewusst im Hinterkopf abgespeichert und wir fanden, dass das cool klingt als Bandname. Heute würden wir uns wahrscheinlich nicht mehr so nennen. Für unser Comeback gab es in der Tat Überlegungen, uns umzubenennen. Das haben wir aber schnell wieder verworfen. Wir wollten ja, dass unsere alten Fans uns über Social Media wiederfinden können. Und tatsächlich haben wir Kommentare von Leuten aus Südamerika, USA, Russland und ganz Europa bekommen, die sich gefreut haben, dass wir wieder da sind.
Klaus: Wenn wir uns an die 90er Jahre erinnern, dann kommen ein paar tolle Erlebnisse wieder hoch. Kurz nach der Wende waren wir in Berlin und sind in der TV-Sendung „Elf99“ aufgetreten. Nebenbei hatten wir noch eine zweite Band, die musikalisch eher in der Indie-Richtung unterwegs war, da wir auch riesige Fans von Radiohead sind. Dadurch haben wir Bär (Andreas Läsker, Manager „Die fantastischen Vier“; Anm.d.Red.) kennengelernt. Seine Managementfirma hat uns eine Single-Produktion finanziert. Wir sind dann in das Studio gegangen und plötzlich steht da Heiko Maile (Mitglied und Produzent von „Camouflage“; Anm.d.Red.) vor uns und sagte, dass er unsere Single produzieren wird. Das Camouflage-Album „Voices & Images“ war damals für uns ein musikalischer Meilenstein. Wir haben Camouflage verehrt. Und auf einmal durften wir mit Heiko Maile arbeiten. Wahnsinn! Letztlich ist diese Single aber nie kommerziell veröffentlicht worden, weil es im Hintergrund beim Label und beim Management Streitereien gab. Also hatten wir wieder einmal Pech. Aber der Kontakt zu Heiko ist geblieben. Mit ihm sind wir nach wie vor befreundet.
Klaus: Camouflage haben mich 2015 gefragt, ob ich nicht für eine Single ihres Albums „Greyscale“, „Count On Me“ mit Peter Heppner, einen Remix machen könnte. Der ist dann auf der Maxi-CD gelandet (Chevy Baccole Oceanside Mix; Anm.d.Red). Das war für mich ein ordentlicher Push, wieder mehr Zeit in die Musik zu investieren und mein Studio auszubauen.
Wie kam es zu dieser langen Pause von 18 Jahren?
Frank: Wir haben beide unser Studium durchgezogen und uns nach den Abschlüssen gefragt, was wir mit der Band machen. Da wir absehen konnten, dass wir von der Musik mittelfristig nicht werden leben können, haben wir uns jeweils auf unsere Berufe konzentriert. Nachdem wir uns da gut etabliert haben, gönnen wir uns heute den Luxus, uns wieder um die Band kümmern zu können. Dafür opfern wir gerne unsere Freizeit, da steckt unser Herzblut drin. Klaus war der ausschlaggebende Faktor, warum es Sea of Sin wieder gibt. Er hat unsere alten Bänder ausgegraben, tolle Remixes unserer Songs gemacht und mich dann auch angefixt. Ich war dann auch sofort Feuer und Flamme.
Wie würdet Ihr Euren Musikstil beschreiben?
Klaus: Lupenreinen Synth-Pop machen wir eigentlich nicht. Unser Songwriting ist ganz klassisch: die meisten Stücke entstehen an der Gitarre oder am Piano. Der elektronische Stempel kommt erst hinterher. Wir sind daher nicht vergleichbar mit vielen Futurepop-Acts. Wir arbeiten eher wie eine klassische Band und klingen dagegen eher so ein bisschen nach Indie-Pop.
Wie ist Eure Arbeitsteilung?
Klaus: Die ganze Produktionsarbeit am Beginn eines Songs übernehme ich in meinem Home Studio. Ich hab auch oft erste Ideen für Harmonien oder eine Melodie. Das schicke ich dann zu Frank und er packt seine Gesangsidee drauf. Und dann entsteht ein Hin und Her der Ideen.
Frank: Wir sind da in einem regen Austausch und ergänzen uns perfekt. Für „Unbroken“ haben wir in kürzester Zeit sieben oder acht neue Songs geschrieben. Und jeder dieser Songs hat es auch aufs Album geschafft. Wir haben ganz wenig weggelassen, was in dieser Phase entstanden ist.
Klaus: Da ist es auch von Vorteil, dass wir schon so lange zusammen Musik machen. Wenn man ein paar Soundskizzen von damals ausgräbt, ist das eigentlich egal, ob das mal für einen Britpop-Song war oder für einen Synthie-Song. Wenn die Idee gut ist, dann passt das auch. Ein guter Song ist ein guter Song. Punkt.
Wohin führt der Weg von Sea of Sin? Wie groß kann Euer Projekt noch werden? Glaubt Ihr, von der Musik künftig leben zu können?
Klaus: Never say never. Aber heutzutage sollte man realistisch sein. In der Musikbranche verdient man nicht mehr so viel Geld. Das war vor Corona schon schwierig und was nach Corona kommt, kann keiner genau sagen. Gerade weil man als professioneller Musiker überwiegend von Live-Auftritten lebt. Wir sind beide glücklich in unseren regulären Jobs. Wenn sich die Möglichkeit ergeben sollte, den nächsten Entwicklungsschritt mit der Band zu gehen, dann werden wir uns keineswegs verweigern. Wir versuchen alles, was geht, sind aber auch realistisch und bleiben auf dem Boden.
Frank: Das Potential ist auf jeden Fall da. Ich glaube, dass die Songs die Qualität haben, einem größeren Publikum zu gefallen. Mal sehen, was sich ergibt, wenn wir im kommenden Jahr live spielen können.
Klaus: Wir sind ja ehrlich mit uns selbst und wissen, dass wir uns musikalisch in einer Nische befinden. Diesen ganzen kommerziellen Autotune-Pop, der tagtäglich im Radio läuft, braucht kein Mensch. Das ist ganz schlimm. Ich höre viele verschiedene Musikstile, aber bei diesem Autotune-Hiphop-Kram rollen sich bei mir die Fußnägel hoch. Wir finden es viel reizvoller, in unserer Nische ein gutes Branding mit unserer Band zu haben, statt auf den Massenmarkt zu schielen.
Frank: Wir identifizieren uns ja mit unserer Musik. Wir stehen dafür grade, was wir machen. Da wollen wir uns auch nicht verbiegen, um in einen kommerzielleren Markt zu kommen.
Wie sehen Eure konkreten Pläne für 2021 aus?
Klaus: Sobald es möglich ist, wollen wir live spielen. Das wird unser Fokus sein.
Frank: Live präsent zu sein, ist uns wichtig. Wir wollen direktes Feedback von unseren Fans bekommen. Das ist natürlich etwas ganz anderes, die Songs auf der Bühne zu performen, statt nur im Studio an den Titeln zu feilen. Wobei beides seinen Reiz hat.
Klaus: Wir werden parallel natürlich weiter neue Songs schreiben. Vielleicht gibt’s nächstes Jahr auch ein neues Album. Das wollen wir nicht ausschließen. Aber wenn’s im nächsten Jahr irgendwie wieder möglich ist, unter normalen Bedingungen – also nicht mit Mindestabstand, Maske und zehn Leuten in einem Club für 150 Leute – aufzutreten, dann wollen wir das machen.
Lieber Klaus, lieber Frank, vielen Dank für das ausführliche Gespräch.