Fรผr das Gesprรคch mit Christopher von Deylen geht’s in den Untergrund. Der „Eiskeller Hamburg“ liegt zehn Meter unter der Erdoberflรคche. In den historischen Katakomben zwischen Hafen und Kiez wird das neue Schiller-Album „Morgenstund“ prรคsentiert. Der 48-Jรคhrige nimmt sich Zeit fรผr ein ausfรผhrliches Interview mit depechemode.de .
Christopher, bist Du ein Frรผhaufsteher?
Ja, ich bin Frรผhaufsteher. Aber der Albumtitel hat nichts damit zu tun. โMorgenstundโ ist eher die Chiffre fรผr einen Neubeginn, fรผr neue Energie, die man jeden Tag aufs Neue bekommen kann.
Ist โMorgenstundโ ein Neubeginn fรผr Dich?
Das Album ist ein Soundtrack zum Neubeginn. Die Musik darauf ist sehr kraftvoll und sehr positiv. Viele der Stรผcke klingen nach Aufbruch.
War der Titel โMorgenstundโ schon da, bevor das Album fertig war?
Das Stรผck โMorgenstundโ gab es schon relativ frรผh. Und natรผrlich ist das ein tolles Wort. So war es dann irgendwann vรถllig unausweichlich, dass โMorgenstundโ die รberschrift fรผr alles weitere geworden ist.
Wie hat Dich dieses Leitmotiv beim Komponieren beeinflusst?
Das ist das groรe Geheimnis, hinter das ich noch nicht gekommen bin (lacht). Was passiert mit mir beim Komponieren? Was muss passieren, damit ich Komponieren kann? Die groรe Freiheit ist, etwas tun zu kรถnnen, ohne von vornherein wissen zu mรผssen, wie es klingen soll. Gleichzeitig ist es aber immer wieder schwer, sich in eine solche Situation hineinzubegeben, denn natรผrlich kann man die vergangenen 20 Jahre Schiller nicht so einfach abschรผtteln. Aber ich fรผhle mich bei jedem Album trotzdem wieder wie ein Newcomer, der alles neu entdecken darf.
Wird Dir bewusst, wenn etwas Neues ganz typisch nach Schiller klingt?
Es gibt natรผrlich Klangimpulse und Sounds, die mir sehr leicht von der Hand gehen. Da wรผrde man dann sagen, dass das typisch Schiller sei. Gleichzeitig bin genau dann etwas argwรถhnisch, wenn mir die Dinge zu leicht von der Hand gehen. Ich finde, dass man sich viele Dinge erkรคmpfen sollte und man sollte dabei auch etwas leiden. In Leidenschaft steckt ja auch das Wort Leiden (lacht). Musik und Schiller sind meine Leidenschaft. Sich selbst in dieser Sache bewusst nicht zu vertrauen, ist nicht immer einfach. Bei โMorgenstundโ ist mir das vielleicht besser gelungen als bei anderen Alben. Es ist sehr organisch entstanden. Da war mehr Bauchgefรผhl dabei.
Ist das nicht risikoreich? Auch unter kommerziellen Gesichtspunkten?
Der kommerzielle Gesichtspunkt spielt gar keine Rolle. Ich bin der festen Meinung: Wenn man unter einem sportiven Gedanken, unbedingt einen Erfolg erzielen zu wollen, Musik macht, dann hรถrt man das der Musik auch an. Dann ist das nur ein reiner Wettlauf oder ein Fuรballspiel nach dem Motto โHauptsache gewinnenโ. Ich bin ja immer noch รผberrascht, wenn ich Menschen treffe, die das, was ich mache, wirklich berรผhrt. Gerade wenn man im Ausland ist, in einer vรถllig anderen Ecke der Welt, wie im Iran oder unlรคngst in Russland. Darauf hab ich es ursprรผnglich gar nicht abgesehen. Ich bin ja schon froh, dass die Musik mir selbst gefรคllt (lacht). Und dann zu erfahren, welchen Weg meine Musik nimmt, wie sie sich quasi wie ein Gletscher durch ein Tal schiebt und sich diverse Nebenarme entwickeln, das ist wirklich magisch.
Hast Du vor 20 Jahren, als Du Schiller begonnen hast, geglaubt, dass Deine Musik diese Wege nehmen kann und dass es Schiller so lange geben wird?
Ich habe nie daran gedacht, dass es irgendwann aufhรถren kรถnnte. Ich sehe gar keine andere Option im Leben als das zu tun, was ich gerade tue. Die Unendlichkeit von dem, was ich mache, habe ich nie in Frage gestellt. Wenn man sich selbst fragt, wie lange es noch gehen kรถnnte, dann wird man unsicher und dann ist das Ergebnis unorganisch. Ich habe mir nie einen Zeithorizont gesetzt, den ich erreichen muss. Schiller besteht ja aus Mikroetappen, die zusammen 20 Jahre ergeben โ und dann nochmal 20 Jahre und nochmal 20 Jahre.
Macht es Dich stolz, mit einem Projekt in der Musikwelt schon so lange unterwegs zu sein?
Ich denke รผber so etwas tatsรคchlich erst nach, wenn ich darauf angesprochen werde. Ich hinterfrage mich zwar oft, aber bei dieser Frage bin ich mir gar nicht sicher, ob man darauf รผberhaupt eine Antwort braucht. Ich kenne die Antwort wirklich nicht. Ich kann erahnen, dass es vielleicht gar nicht so viel mit der Musik zu tun hat, die ich mache, sondern dass es einfach etwas sehr Persรถnliches ist, was ich tue. Auch wenn ich selber gar nicht singe und manchmal etwas unnahbar erscheine, was gar nicht meine Absicht ist. Ich muss mich dafรผr ja nicht mit der Gitarre ans Lagerfeuer setzen und รผber verblichene Liebschaften dozieren (lacht). Ich drรผcke mich halt auf meine Art aus. Das ist vielleicht auf eine gewisse Art und Weise ungeschwรคtzig genug, dass es dem Zuhรถrer immer wieder eine musikalische Balance gibt. Dass mir das gelingt, darรผber freue ich mich sehr. Aber eine Geheimformel dafรผr gibt es nicht.
Du arbeitest auf jedem Album mit den unterschiedlichsten Kรผnstlern zusammen. Auf โMorgenstundโ singt Nena. Wie ist diese Kollaboration zustande gekommen?
Nena habe ich im Jahr 2001 zum ersten Mal getroffen. Da hab ich noch in Hamburg gewohnt und sie hat mich zusammen mit ihrem Hund besucht (lacht). Wir haben einen ganz tollen Nachmittag verbracht und haben รผberlegt, ob wir etwas zusammen machen kรถnnten. Wir haben ja nur eine Nena. Sie gehรถrt zum deutschen Musikinventar. Gleichzeitig hat sie sich aber sehr oft schon neu erfunden und macht viele Dinge unerwartet anders. Das ist beeindruckend. Die Zusammenarbeit hat sich dann aber nicht ergeben. Es haben ganz profane Zeitgrรผnde dagegen gesprochen. Es war damals ein ganzes Album angedacht. Dafรผr braucht man sehr viel Raum und das lieร sich nicht einrichten. Ich hatte dann im Laufe der Jahre immer wieder mal Stรผcke, von denen ich dachte, dass sie vielleicht zu Nena passen wรผrden, hab mich aber nicht getraut sie ihr zu schicken (lacht). Der Track โMorgenstundโ war dann aber einer, da konnte ich mir gar keine andere Atmosphรคre vorstellen als die Stimme von Traumweltenbรผrgerin Nena (lacht).
Wie lief die Zusammenarbeit dann ab?
In diesem Fall war das Stรผck fertig. Der Text ist ja quasi ein Best-Of der deutschen Romantik. Das konnte dann niemand anderes singen als Nena.
Der zweite groรe Name auf dem neuen Album ist Giorgio Moroder. Ist er Dein Idol?
Ich war nie an Fan, der Platten von Giorgio Moroder gesammelt hรคtte. Dennoch ist die stilprรคgende Wirkung seiner Produktionen legendรคr. Er ist auf so vielen verschiedenen Feldern unterwegs und trotzdem ist das Gesamtkunstwerk total homogen. Er ist jemand, der mit seiner Kreativitรคt sehr groรzรผgig umgeht.
Habt Ihr Euch kรผnstlerisch sofort verstanden?
Ja, sofort. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass jemand, der jede Befugnis der Welt hรคtte, nur รผber Frรผher zu reden, sich jeden Tag neuen Herausforderungen stellt. Er geht jetzt mit fast 80 Jahren zum ersten Mal auf Tour! Man kรถnnte ihm ja sagen, dass er es bei sich in Sรผdtirol schรถn hat mit einem tollen Blick auf die Dolomiten. Warum tut er sich den Tourstress jetzt an? Das wรผrde ich ihn natรผrlich niemals fragen! (lacht) Er will das unbedingt machen und das finde ich ganz toll. Da haben wir wohl eine gewisse Seelenverwandtschaft. Es geht ihm darum, nach vorne zu blicken und nicht nur das Erreichte zu verwalten. Giorgio hat ein grandioses Gespรผr fรผr Melodien. Ich hatte ein Instrumental vorbereitet. Ich wusste noch nicht, ob Gesang dazu passen wรผrde oder ob das instrumental bleiben wird. In diesem Stadium hab ich ihm den Track geschickt und er hat die Hauptmelodie darauf komponiert, als ob es Gesang wรคre. Er hat mir von Anfang an gesagt, dass er gerne die Melodie machen wรผrde und alles andere wรผrde er mir รผberlassen. Als er mir dann das Stรผck mit der Melodie zurรผckschickte, hab ich noch sehr lange daran gearbeitet. Ich hoffe, es klingt so, als sei alles in diesem Song an seinem ursprรผnglichen Platz. Aber in Wahrheit habe ich viel herumprobiert.
Die Zusammenarbeit mit Tangerine Dream ist bestimmt sehr naheliegend gewesen, oder?
Ich kenne Thorsten Quaeschning (seit 2005 Mitglied bei Tangerine Dream) schon sehr lange. Wir haben schon immer gesagt, dass wir mal zusammen machen mรถchten. Das, was wir nun gemacht haben, ist quasi ein Live-Konzert geworden. Es ist eine Echtzeitkomposition. Die ist grรถรtenteils improvisiert. Wir haben die Sequenz vorher programmiert, dann vรถllig ergebnisoffen auf Aufnahme gedrรผckt und zusammen musiziert. Insgesamt waren das 60 Minuten, die wir dann zu einer halben Stunde editiert haben. Das war der erste Take und dabei haben wir es belassen. So etwas lรคsst sich nicht wiederholen.
Du gehst demnรคchst auf groรe Arena-Tour. Was wird dort passieren?
Wir haben in den vergangenen drei Wochen die Stรผcke fรผr die Tour neu arrangiert. Wir sind insgesamt sechs Musiker und eine unfassbar tolle Band! Die Stรผcke haben teilweise eine ganz unerwartete Wendung genommen in unserem Tourstudio. Auf der Bรผhne wird man sechs energiegeladene Musiker sehen. Ich habe mich noch nie so wohl gefรผhlt in einer Live-Band. Das ist wirklich einmalig! Das wird man auf der Tour dann hoffentlich sehen. Das hat mir ganz unerwartet so viel Spirit gegeben. Wenn man sich dann noch die Lichtshow dazu vorstellt, dann wird das fรผr den Zuschauer etwas ganz Besonderes sein. Es gab allerdings in der Vergangenheit Momente, wo man aufpassen musste, dass das Licht und die ganze Produktion mit dem Aufwand, den man betrieben hat, nicht das Zepter รผbernimmt. Diesmal ist das andersrum. Wenn jetzt das Licht auf der Bรผhne ausfallen sollte, kรถnnten wir als Musiker trotzdem weiterspielen und es wรคre trotzdem noch aufregend. Elektronische Musik so live und organisch zu spielen, ist etwas ganz Tolles. Wir sind erst vor einer Woche damit fertig geworden und ich habe noch nicht so oft darรผber gesprochen. Ich bin aber total beseelt davon. (lacht) Wir haben versucht, die Essenz der Stรผcke deutlich herauszuarbeiten, ohne sie dabei genauso zu spielen, wie sie auf den Platten sind. Natรผrlich erkennt man die Stรผcke sofort, aber durch die unglaubliche Prรคsenz von Gary Wallis (Live-Drummer von Pink Floyd), der seine Drums so kraftvoll und entschlossen spielt, entsteht etwas, was man vielleicht nicht unbedingt auf einem Schiller-Konzert erwartet. Es wird natรผrlich auch kleine ruhige Inseln wรคhrend der Show geben, aber eben auch Passagen, die deutlich nach vorne gehen. Das ist der Unterschied zur โKlangweltenโ-Tour.
Wie ist es dazu gekommen, dass Du im legendรคren Tonstudio von Genesis, The Farm, in England aufnehmen durftest?
Ich hatte Gary Wallis angerufen, um Dinge fรผr die Tour zu besprechen. Am Ende des Gesprรคchs fragte ich ihn eher beilรคufig, was demnรคchst bei ihm anstehen wรผrde. Er erzรคhlte, dass er auf dem neuen Album von Mike And The Mechanics spielen wird. Das wird natรผrlich in The Farm aufgenommen. Und dann fragte er plรถtzlich, ob ich nicht Lust hรคtte, dort auch etwas aufzunehmen. Da ist mir erst einmal die Kinnlade runtergefallen (lacht). Natรผrlich hab ich zugesagt! Ich hatte ursprรผnglich รผberhaupt nicht den Plan, auf dem neuen Album irgendetwas mit einem Schlagzeug zu machen. Ich hatte alles mit dem Drumcomputer und mit Samples machen wollen. Und auf einmal ergab sich diese Mรถglichkeit. Ich habe dann drei Stรผcke ausgesucht, von denen ich noch nicht einmal wusste, ob dazu ein richtiges Schlagzeug passt. Auf einem Stรผck gab es bisher keine Drumspur und Gary hat dann einen Groove beigesteuert, der mir so nie eingefallen wรคre. Am zweiten Tag waren wir eigentlich fertig und wollten gerade packen und dann kam Mike Rutherford (Grรผndungsmitglied von Genesis und Mike And The Mechanics) vorbei und wollte kurz Hallo sagen. Dann hat er sich unsere Songs angehรถrt und sagte mit der ihm eigenen britischen Noblesse, dass er sich vorstellen kรถnne, darauf Gitarre zu spielen. Ich hรคtte es nicht persรถnlich genommen, wenn es nur eine Hรถflichkeitsfloskel gewesen wรคre. Alleine im Genesis-Studio aufnehmen zu kรถnnen, das man ja nicht einfach mieten und wohin man nur eingeladen werden kann, ist eine groรe Ehre. Aber die Mitarbeit von Mike Rutherford ist dann die Krรถnung gewesen. Diese Momente mit diesen Musikern sind ein groรes Geschenk. Ich habe im Iran mit drei Musikern gearbeitet, sie sprachen kaum englisch und wir hatten einen Dolmetscher dabei. Der hatte aber nach ein paar Minuten nichts mehr zu tun, weil wir uns alle ohne Sprache verstanden haben. Wir konnten uns รผber Gesten und vor allem รผber Musik verstรคndigen. Das ist total beruhigend. Es รคndert sich so viel in der Musiklandschaft. Wie Musik erzeugt wird, wie sie dann auch verteilt und gehรถrt wird. Es ist sehr beruhigend, dass es dennoch Momente gibt, in denen es ausschlieรlich um die Musik an sich geht. In der heutigen Zeit entfernen sich so viele Menschen voneinander, da ist es wichtig, dass es Musik gibt, die Menschen verbinden kann. Musik behรคlt ihre Kraft.
Christopher,ย vielenย Dankย fรผrย dasย Gesprรคch.
Schillerย –ย Morgenstundย (Limitedย Superย Deluxeย Edition)
Schillerย –ย Morgenstundย (Limitedย 180gย Doppel-Vinylย Edition)
Schillerย & Nena –ย Morgenstund (incl. Remixes)