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Mit Vince Clarke als Jackson Pollock

Jean-Michel Jarre im Interview – Teil 2: „Musik soll als Soundtrack für den Film im Kopf dienen.“

Am Freitag erscheint mit „The Heart Of Noise“ der zweite Teil von Jean-Michel Jarres „Electronica“-Doppelwerk. Zeit für uns, Teil 2 unseres langen Interviews mit dem Musiker auf euch loszulassen:

Unser Interview war unterbrochen worden, weil Jean-Michel Jarre einen unaufschiebbaren Telefontermin mit einem Radiosender hatte. Nachdem er diesen in seiner Muttersprache erledigt hat, kommt er zurück und ist gleich wieder bei der Sache. Vollprofi eben.

JMJ: Entschuldigung für die Unterbrechung! Wo waren wir?

dm.de: Wir sprachen zuletzt über deinen Track mit Air und die elektronische Reise, die ihn ausmacht. Dafür wurde ja eine Menge an Gerätschaften verwendet. Die müssen doch Einiges an Platz zu Hause einnehmen! Aber hast du trotzdem noch bestimmte Lieblingsinstrumente?

Ja, es ist immer schwierig, weil ich über die Jahre all meine Instrumente behalten habe. Aber wenn ich nur ein paar davon behalten dürfte, wären es wohl Live Ableton, weil es eine Menge Zeit spart, dann der Memory Moog und der VCS 3 oder AKS, weil es mein erster Synthesizer war. Der ist mein Fetisch, mein Kuscheltier.

Da wir eine Depeche-Mode-Fanseite sind, würde ich gern noch ein paar spezifische Fragen stellen…

Wie war es, mit Vince Clarke zu arbeiten?

Vince Clarke stand sehr weit oben auf meinem Wunschzettel. Für mich ist er der Sound der 80er. Als Mitgründer von Depeche Mode natürlich, aber auch wegen seines zeitlosen Sounds. Heutzutage bezieht sich jeder auf die 80er, in der Mode, bei Filmen, in Büchern – überall. Ich hatte zwei Tracks für ihn vorbereitet. Dann bin ich nach Brooklyn, und wir haben ein bisschen Zeit zusammen im Studio verbracht. Ich habe mit ihm die gleiche Art von Nerd und Geek getroffen, wie ich selbst einer bin. Er hat die gleiche Leidenschaft und Besessenheit für Synthesizer. Wie waren sofort wie Zwillinge oder alte Freunde. Ich kam mit den zwei Demos, damit er sich vielleicht eines davon aussucht. Doch sehr schnell kam mir die Idee, sie beide als einen Track aufzunehmen, mit Part 1 und 2. Teil 1 mehr abstrakt, so wie ein Jackson Pollock auf Synthie – so sehe ich Vince Clarke nämlich. Und wir haben die gleiche Meinung über die Bedeutung der Melodie in der Musik, darum ist der zweite Teil mehr hymnisch und melodisch.

Das andere musikalische Genie bei Depeche Mode ist Martin Gore. Hast du auch darüber nachgedacht, mit ihm Kontakt aufzunehmen?

Hätte ich gern. Ich bin ein großer Fan. Für mich sind Depeche Mode eine tiefe Quelle der Inspiration. Und ich liebe auch, was Martin mit Vince als VCMG gemacht hat – das ist eines meiner Lieblingsalben der jüngeren Vergangenheit. Ich würde ihn gern in der Zukunft in irgendeiner Form dabei haben, vielleicht auch mit einem Remix des Stückes mit Vince – das könnte spaßig werden [das hat ja leider vorerst nicht geklappt, wie wir mittlerweile wissen, Anm. d. Red.].

Hast du sein Soloalbum als MG gehört?

Ja, das mag ich auch sehr. Es ist etwas abstrakter, man kann fühlen, wie er in verschiedenen Bereichen experimentiert.

Nun noch zu zwei meiner Lieblingstracks auf deinem Album [Teil 1]. Der erste ist der mit Gesaffelstein. Einer der jüngeren Künstler, mit denen du gearbeitet hast. Der Track ist sehr melodisch und düster zugleich. Düsterer als das in deiner Musik üblich ist.

Wir stammen aus der gleichen Stadt [Lyon]. Französische elektronische Musik hat diesen impressionistischen Touch. Air haben ihn, Rone hat ihn auch. Ein sehr interessanter Künstler, der auf Teil 2 meines Albums dabei ist. Und Gesaffelstein passt da auch hinein, der hat dieses Dark-Techno-Feeling, etwas gothic, aber dahinter auch diesen impressionistischen Zugang zu Texturen und Sound. Ich war sehr beeindruckt davon, wie er eine für sein Alter sehr präzise Meinung davon hat, was er will und was nicht. Ich bin stolz auf diese sehr minimalistische Version auf dem Album. Wir haben an zwei Versionen gearbeitet, die andere ging mehr so in Richtung Trent Reznor. Ich war vor langer Zeit ja auch mal in Rockbands. Ich habe da so einen tollen Les-Paul-Gitarrensound drauf, so richtig industrial. Und dann sagte Gesaffelstein, nein, das ist too much [lacht]. Das Stück war auch erst härter und schneller, und wir hatten diese Diskussion, wo er zu mir sagte: Das ist zu gewalttätig. Das hätte man so herum wohl nicht erwartet. Eigentlich wollte ich das als Bonustrack für Teil 1 haben, das hat aber aus irgendwelchen Gründen nicht geklappt. Also kommt die Version dann zu den Bonustracks von Teil 2 [und auf Vinyl].

Das andere Stück ist der Track mit Robert Del Naja, 3D, von Massive Attack. Eine meiner Lieblingsbands. Sehr verdrehte Sounds auf diesem Track. Vielleicht dein erstes Stück in Richtung Trip-Hop?

Für mich geht es immer um Zeitlosigkeit. Das gilt für die 80er-Sounds, aber genauso für Massive Attack, die für mich den Sound der 90er ausmachen, dazu gehören später im Jahrzehnt noch Air. Massive Attack haben diese organische, sinnliche, sexuelle Herangehensweise an Sound mit einer Fähigkeit, Raum um jeden Ton herum zu schaffen. Ich liebe das! Auch dieses „Weniger ist Mehr“, das beneide ich geradezu. Als ich das erste Mal „Blue Lines“ hörte – wow! 3D – für mich Herz und Seele von Massive Attack – kollaboriert nicht so oft, ich war sehr erleichtert über seine Zusage. Erst wollte ich den Track mit Gesang machen, bei Massive Attack gibt es das ja oft, mit Elizabeth Fraser und vielen anderen. Das hat aber irgendwie nicht funktioniert, und dann hatte ich eine Idee, wir haben dem Track eine neue Richtung gegeben, mit den bearbeiteten und verdrehten Vocals und diesem Thema der Kameraüberwachung. Überall wirst du beobachtet und ausspioniert. Und dann funktionierte der Track sehr schnell. Ich liebe diesen speziellen Sound, dieses tribal feeling. Ich liebe diesen Typen! Danke, dass wir darüber gesprochen haben, dieser Track bedeutet mir sehr viel! 3D ist übrigens auch ein großartiger Maler, er hat auch das Cover für die Vinyl-Maxi gemacht. Er ist für mich wie ein moderner Basquiat oder Francis Bacon.

Du scheinst ohnehin ein sehr visuell denkender Mensch zu sein. Hast du bestimmte Bilder oder Ansichten im Kopf beim Schreiben?

Ich habe, seltsamerweise, mehr abstrakte Bilder im Kopf. Ich habe immer ein Problem mit Videos, bin so ein bisschen der Anti-MTV-Typ. Ich bin immer vorsichtig bei narrativen Zusammenhängen in der Musik. Für mich soll Musik – und meine eigene insbesondere – als Soundtrack für die Bilder oder den Film im Kopf des Hörers dienen. Dazu möchte ich inspirieren. Mir geht es oft so, wenn ich einen Song höre und dann das Video dazu sehe, dass ich denke, das hat damit überhaupt nichts zu tun. Das enttäuscht mich dann. Ich mag auch immer mehr abstrakte Grafiken für meine Bühnenvisuals, daran arbeite ich für die Zukunft.

Der zweite Teil des Albums kommt im Frühjahr heraus [am 06.05.]. Darauf sind Kollaborationen mit Gary Numan, Cyndi Lauper, Hans Zimmer, Yello und weiteren Künstlern [Pet Shop Boys, Primal Scream, The Orb…]. Wird es signifikante Unterschiede zum ersten Teil geben? Und wie hast du entschieden, wer auf Teil 1 und wer auf Teil 2 kommt?

Ganz einfache Antwort: Die Tracks auf Teil 1 sind die, die ich rechtzeitig fertig bekommen habe [lacht]. Kein anderes Konzept wie Nacht und Tag oder Vergangenheit und Zukunft. Aber wo ich das gerade gesagt habe… Ich habe eine Menge im Verlauf dieser Albumaufnahmen gelernt. Und vielleicht haben die Erfahrungen vom ersten Teil einen Effekt auf den zweiten. Es ist keine Wiederholung, es ist ein Komplementär, es ist durchaus unterschiedlich, auch aufgrund der unterschiedlichen Künstler. Ich freue mich sehr auf Teil 2. Das ist wie mit den Covern von Teil 1 und 2 – die lassen sich sich ineinander falten und ergeben erst dann richtig Sinn.

Letzte Frage: Wird das Album live umgesetzt?

Ja, ich werde damit touren. Und damit ergab sich natürlich das Problem mit den Kollaborationen. Klar, es gibt viele instrumentale Tracks, wie die mit Vince Clarke oder Air, wo die Präsenz der anderen Musiker nicht zwingend notwendig ist. Und es wird auch einige ältere Stücke geben, die ich mir nochmal vornehmen werde um sie an den Sound von 2016 anzupassen. Und obendrauf haben mir einige Künstler zugesagt, dass sie, wenn Ort und Zeit passen, dabei sein werden.

Vielen Dank für das schöne Gespräch!

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www.jeanmicheljarre.com
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Thomas Bästlein

Thomas Bästlein schreibt (früher unter dem Spitznamen Addison) seit Anfang 2007 für depechemode.de. Hauptberuflich arbeitet er im öffentlichen Dienst. Du kannst Thomas online bei Facebook treffen.

1 Kommentar

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  1. Er hätte vielleicht mal bei Alan anklingeln sollen das hätte stilistisch viel besser zusammengepasst gemacht als Martin :)

Kommentare sind geschlossen.

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