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Über Ostberliner Architektur und elektronische Zeitreisen

Jean-Michel Jarre im Interview – Teil 1: „There is Oxygene in Air“

JMJ-Still-collageGrand Hyatt Hotel Berlin, Viktor de Kowa Suite. Der aufgeregte Schreiberling von depechemode.de hat die große Ehre, eine der Legenden der elektronischen Musik treffen zu dürfen: Jean-Michel Jarre! Der Beginn verzögert sich um ein paar Minuten, der Meister hat beschlossen, das vorherige Interview etwas auszudehnen. Wie wir kurz darauf feststellen dürfen, ist das nicht ungewöhnlich, dieser Mann brennt für seine Musik und hat eine Menge zu erzählen (und an Neuem interessiert ist er auch noch – er notiert sich nach der Begrüßung sogleich unsere Homepage in seinem Smartphone, um sie sich später in Ruhe anschauen zu können). Deswegen haben wir das Interview – ganz wie Jarres Album „Electronica“ – auch aufgeteilt, hier kommt Teil 1:

Wie fühlt es sich an in Berlin zu sein? Du bist ja in deinem Leben schon oft hier gewesen.

Ich liebe diese Stadt! Wie so viele Menschen das tun. Diese Stadt transportiert eine Menge Fantasie. Manchmal kann man in Berlin nach einer Weile ein bisschen gelangweilt sein, so wie das wohl einigen Leuten geht, die hier leben. Aber es ist eine der Weltstädte überhaupt. Für mich ein Zentrum der Welt, hinsichtlich Kreativität, Philosophie, Musik, Kunst, Fotografie. Es ist für mich wie eine spirituelle und emotionale Heimatstadt. Ich war als Kind schon oft hier, weil mein Onkel für die Lebensmittelversorgung der französischen Armee zuständig war. Also bin ich mit meinem Cousin an der Mauer und in Ostberlin herumgestromert.

Spannend!

Das war wie ein James-Bond-Abenteuer für uns… und natürlich ist Berlin eines der Zentren elektronischer Musik. Die elektronische Musik stammt ja aus Europa. Damit hat Amerika, im Gegensatz zu Jazz, Rock oder Pop, gar nichts zu tun, das kommt von hier. Die Ursprünge liegen in der klassischen Musik, in Berlin und Paris – oder Deutschland und Frankreich. Mit Stockhausen, Pierre Schaeffer, Pierre Henry und so weiter.

Ja. Hast du die ewig andauernden Veränderungen hier in der Stadt beobachtet?

Ich habe viele Veränderungen in Berlin gesehen. Natürlich habe ich die geteilte Stadt miterlebt. Übrigens, als Franzose und Außenstehender darf ich das wohl sagen: Die Architektur in Ostberlin war viel interessanter als die in Westberlin. Und nun hat sich mit der vereinten Stadt wieder alles total verändert. Da ist dieser riesige Boom. Man kann kaum noch erkennen, dass das historisch mal zwei Städte waren. Ich liebe es auch, dass Berlin zwei Gesichter hat – ein dunkles und ein sonniges. Nicht vom Wetter her…

… sondern mehr so vom Vibe…

Genau.

Wo wir von Berlin sprechen: Du eröffnest dein neues Album mit Boys Noize. Der ist ja gerade sehr angesagt, weltweit. Warum hast du gerade ihn ausgesucht, und wie stark folgst du der aktuellen elektronischen Tanzmusik?

Als ich angefangen habe mit der Idee zu spielen, für dieses Projekt Künstler aus vier Jahrzehnten elektronischer Musik zu versammeln – also seit der Zeit, als ich selbst begonnen hatte, elektronischer Musik zu machen… [überlegt]… Wir sprachen ja schon davon, wo die elektronische Musik herstammt – und daher wollte ich unbedingt mit einem deutschen Künstler beginnen. Und dann als Zweites mit einem französischen Act weitermachen. Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt habe ich da an Boys Noize gedacht. Alex [Ridha, so ja Boys Noize‘ eigentlicher Name, Anm. d. Red.] symbolisiert für mich das, was die deutsche elektronische Musik ausmacht. Einmal diese Faszination für Maschinen, die es von Kraftwerk oder Tangerine Dream bis hin zur Technoszene, mit Leuten wie Sven Väth, hier gegeben hat. Und dann hat Boys Noize eben einen Teil Boy und einen Teil Noize in sich. Der Noize-Teil steht für die maschinelle elektronische Musik, während der Boy-Teil dafür steht, einfach auch mal Spaß zu haben. Mit ihm hatte ich im Sinn, etwas zu machen, was den historischen Teil deutscher Elektronik, wie Popol Vuh oder Kraftwerk, mit diesem harschen, epischen Stil von Boys Noize vermischt. Ein Stück, mit dem man ein Album und ein Konzert eröffnen kann. Es wird vermutlich auch der Opener meiner nächsten Tour sein. Und den Titel „Time Machine“, gleichzeitig Untertitel des Albums, habe ich gewählt, weil eine Zeitmaschine in beide Richtungen funktionieren sollte. Das symbolisiert, dass die elektronische Musik eine Geschichte, ein Erbe, aber auch eine Zukunft hat.

Kennst du eigentlich sein früheres Projekt als Kid Alex, bevor er zu Boys Noize wurde?

Ich habe davon gehört, kenne es aber nicht. Wie klang das denn so?

Ganz anders. Eine etwas schräge Art von Popmusik. Nicht größtenteils instrumental und elektronisch wie jetzt, sondern auch mit mehr Rockeinflüssen. Und er hat damals noch gesungen. Es war sehr interessant, wenn auch nicht annähernd so erfolgreich wie jetzt Boys Noize.

Das ist interessant, denn viele elektronische Musiker haben mit Rockmusik angefangen. Bei mir war das so, bei Moby, Vince Clarke oder Tangerine Dream. Letzteres habe ich ganz spät herausgefunden, als ich mit Edgar Froese über unseren Track „Zero Gravity“ gesprochen habe. Wir haben im Prinzip zur gleichen Zeit mit Musik begonnen, aber Tangerine Dream waren zu Beginn eher eine Prog-Rock-Band. Sie wurden erst später, so nach 1973, mit „Phaedra“, „Rubicon“ und „Ricochet“ eine richtig elektronische Band. Wenn du in deinen Zwanzigern bist, sind vier, fünf Jahre ein Riesenunterschied.

Allerdings. Du bist wohl der letzte Künstler, der mit dem leider verstorbenen Edgar Froese gearbeitet und einen Song aufgenommen hat. Wie sind deine Gefühle bezüglich dieser Aufnahmen, und wie arbeiten solche elektronischen Legenden zusammen?

Edgar stand ganz klar sehr weit oben auf meinem Wunschzettel. Wir hatten uns vorher nie wirklich getroffen, höchstens mal kurz. Ich wusste nicht, ob er interessiert sein würde. Dann habe ich mit ihm telefoniert und er sagte, das ist ja toll. Ich sagte, wenn das okay wäre, würde ich ihn besuchen kommen. Denn das Dogma dieses „Electronica“-Projektes war es, das Gegenteil all dieser trendy Featuring-Projekte zu sein. Die hasse ich nämlich – da schickt man sich Tracks durchs Netz, und irgendjemand, mit dem man vielleicht nicht mal persönlich gesprochen hat, ergänzt eine Kleinigkeit. So etwas wird meistens hauptsächlich zu Marketingzwecken gemacht. Das Gegenteil davon wollte ich erreichen. Ich wollte die künstlerischen DNA vermischen, den kreativen Prozess miteinander teilen. Die andere Regel war, dass ich für jeden möglichen Kollaborateur ein besonderes Stück Musik mit demjenigen im Sinn schreibe. Für Tangerine Dream hatte ich ein Stück im Kopf, das ihnen genug Platz zur Ergänzung lassen sollte. Und dann flog ich also nach Wien, nahm mir ein Auto und fuhr die ungefähr 200 Kilometer bis zu Edgar nach Hause. Da haben wir den ganzen Tag verbracht, und später kam dann die ganze Band dazu. Er wusste erst nicht, was ich für einen Track geplant hatte. Aber als Geschenk habe ich von ihm eine Tangerine-Dream-Version von „Oxygene“ bekommen!

Wow!

Das ist für mich ein echtes Sammlerstück! Dann habe ich ihm mein Demo vorgespielt und gesagt, ich stelle mir ein Stück von Tangerine Dream in ihrer rein elektronischen Phase vor, nicht mit Saxofon, Gitarren und so weiter, wie sie es später gemacht haben. Die Stücke von Tangerine Dream waren auch immer sehr lang – noch länger als meine – und oft im gleichen Akkord gehalten. Wir haben also ein langes Instrumentalstück aufgenommen – für das Album habe ich das kürzen müssen, aber die lange Version werde ich auch noch veröffentlichen –, das sich anfühlt wie ein linearer Track, bei dem sich aber Akkord und Modulation dauernd verändern. Das ist sehr einzigartig für elektronische Musik – der Track klingt sehr gleichmäßig und konsistent, aber wenn du nur den Anfang und das Ende hörst, klingt das nach zwei völlig unterschiedlichen Stücken. Wir haben also zusammen an dem Track gearbeitet, dann hat er ihn mir geschickt, ich habe noch ein paar Sachen verändert und ihn zurückgeschickt, dann hat er mir einen sogenannten „Pre-Mix“ geschickt – und der war schon so perfekt, dass ich das bis aufs finale Mixing komplett so gelassen habe. Es war wie Ping Pong zwischen uns, eine echte Fifty-Fifty-Kollaboration, was es für mich zu etwas Besonderem macht. Und dann ist das, wie du schon sagtest, der letzte Track von Tangerine Dream. Denn egal, ob und wie die Band weitermacht – und ich wünsche ihnen natürlich alles Gute dafür –, Edgar war das Herz und die Seele, der Nukleus von Tangerine Dream. Deswegen habe ich ihm dieses Album auch gewidmet.

Ein anderer Track, der an Anfang und Ende sehr unterschiedlich ist, und mich auch an deutsche elektronische Musik erinnert, ist überraschenderweise das Stück mit Air. In den ersten beiden Minuten klingt es wie Kraftwerk zur Zeit von „Trans Europa Express“, dann verändert sich das Stück, wird moderner und klingt irgendwann mehr nach einem typischen Air-Song. Wie kam es dazu?

Air waren eine der offensichtlichsten Kollaborationen. Schließlich ist ja „Oxygene“ in Air [lacht]. Und dann dachten wir, es könnte Spaß machen, mit diesem Track eine Reise durch die Geschichte der elektronischen Instrumente zu machen. Beginnend mit der Art, wie ich Musik gemacht habe, als ich Student bei Schaeffer war, wo wir Loops mit Magnetband und Rasierklinge gemacht haben. Wir haben auch die ersten Oszillatoren der Radiosender benutzt. Und einen der allerersten Synthesizer, noch vor Moog – einen Coupigny. So habe ich in den späten 60ern meine ersten elektronischen Stücke wie „La Cage“, einen Track, den ich als Teenager um 1967 herum geschrieben habe, aufgenommen. So, dann ging es weiter zu den modularen Synthesizern, dann zu den Samplern wie dem Fairlight, dann zu den digitalen Synthesizern – und der letzte Sound des Tracks kommt von einem iPad. So ist es eine schöne Zeitreise geworden, mit einer guten Balance zwischen dem Air-Sound und meinem.

… An dieser Stelle unterbricht uns der freundliche Promoter. Der Zeitplan ist schon ordentlich in Verzug – und JMJ hat einen unaufschiebbaren Telefon-Interviewtermin mit einem Radiosender. Also unterbrechen wir unser Gespräch für 20 Minuten (aus denen dann doch wieder 30 werden, aber der Sessel ist bequem, es gibt Getränke und beim Mitlauschen des Telefonats kann man testen, wie viel Französisch man noch so versteht – leider wenig)… und Teil 2, in dem es unter anderem um Vince Clarke (und andere DM-relevante Dinge…) geht, könnt ihr in wenigen Tagen bei uns lesen.

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www.jeanmicheljarre.com
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Thomas Bästlein

Thomas Bästlein schreibt (früher unter dem Spitznamen Addison) seit Anfang 2007 für depechemode.de. Hauptberuflich arbeitet er im öffentlichen Dienst. Du kannst Thomas online bei Facebook treffen.

1 Kommentar

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  1. Schönes Interview.
    Das Projekt kommt echt zur richtigen Zeit finde ich.
    Bin gespannt was noch alles kommt. :)

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